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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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weithin lesbar, der Wahlkampfslogan der bayerischen SPD: »Bayern, aber gerechter«.
    Mit der Gerechtigkeit, sagt Enzensberger, sei das so eine Sache; alle seien ja dafür, und wenn keiner dagegen sei, erübrige es sich dochirgendwie. Und was genau die vielbeschworene »soziale Gerechtigkeit« überhaupt sein solle, sei auch völlig unklar. Für Gerechtigkeit zu sein, sei in etwa so labbrig, wie für den Frieden zu sein – denn niemand trete ja im Wahlkampf für Ungerechtigkeit oder Krieg ein.
    Von der Bühne weht jetzt das Wort »Bildungsgerechtigkeit« herüber, auch so ein Ungetüm; »dass alle Kinder einen erfolgreichen Bildungsverlauf nehmen können«, möchte eine der Kandidatinnen sicherstellen. Es müsse Gerechtigkeit »hergestellt« werden, und zwar in allen Bereichen. Wie man sich das bitte vorzustellen habe, fragt Enzensberger belustigt. Eine Gerechtigkeitsfabrik? Das seien so wahlkampftypische semantische Rätsel, wie auch der statt »Arbeiter« heutzutage gebräuchliche Begriff »Arbeitnehmer« – nehme der Arbeitgeber nicht auch Arbeit, nämlich die der ihrerseits Arbeitnehmer genannten? Oder: die vielbemühte »Verantwortung«. Er trage sie, der Politiker, werde gesagt, aber das bedeute doch im Ernstfall höchstens Rücktritt. Wirkliche Verantwortung im Sinne einer Haftung sei ja vollkommen unmöglich. Falls einer riesige Schäden verursacht habe, könne er die ja gar nicht wiedergutmachen, das werde auch nicht verlangt. Verantwortung also, na gut, man wisse, was gemeint sei – und dass es eben nicht allzu wörtlich zu nehmen ist.
    An einem überdachten Stand kann man sich mit Werbematerialien der SPD ausstatten, Lippenpflegestifte liegen dort zur Mitnahme, humorige Bierdeckel, Buttons und die üblichen Broschürenstapel, das Heftchen »Kurz und knapp – unsere Ziele« hat auch immerhin 24 Seiten, wer wird all das je lesen? Enzensberger hebt die Schultern, er habe schon viele Menschen gefragt, ob sie jemals ein Wahlprogramm gelesen hätten, und niemand habe dies je bejahen können.
    Fähnchen gibt es bei der SPD natürlich auch, viele Fähnchen, wie bei jeder Partei. Wahlkampf ohne Fähnchen, das sei undenkbar, sagt Enzensberger, Fähnchen und natürlich eine Tribüne für die Verkündigung, einer Kanzel nicht unähnlich, überhaupt seien das alles Schwundstufen heiliger Rituale, Demokratie bedürfe nun mal gewisser Ritualisierungen. Er wolle die Analogie zur Kirche nicht überstrapazieren, aber auch derUrnengang sei doch eine Zeremonie. Ganz geheim! Die Wahlkabine als politischer Beichtstuhl, dazu die Miene, die die Menschen im Wahllokal machten, dieser heilige Ernst – wie im Gerichtssaal oder im Gottesdienst, da werde ja auch nicht gelacht. Religion in starker Verdünnung sei das. Und die Nichtwähler seien die Atheisten der Demokratie, wenn man so wolle.
    Die »Franz wählen«-Lebkuchenherzen, die seit Münteferings Bierkeller-Comeback vor drei Wochen fairerweise um den Nachnamen des eigentlichen Kandidaten hätten ergänzt werden müssen, nimmt natürlich ein jeder gern mit. »Haben Sie denn genug davon?«, erkundigt sich Enzensberger höflich bei einer der jungen Damen am Stand, lässt das Herz dann doch liegen, fragt die Dame aber noch, was denn das Wort »Erfolgszentrale« auf ihrem Namensschild bedeute. Die Wahlkampfzentrale der SPD heiße jetzt saisonal so, wird ihm erklärt, und da es auf der Bühne weiterhin faszinationsfrei zugeht (»Schluss mit der Turbo-Schule – deshalb einfach mal zwei Kreuze bei der SPD machen!«) und kein Müntefering, kein Ude, nichtmal Maget in Sicht ist, schlägt Enzensberger einen Marsch zur »Erfolgszentrale« vor.
    Der Weg dorthin ist gesäumt von Wahlplakaten:
    Dr. Annette Bulfon, FDP, wirbt so: »Apothekerin, 42 Jahre, 3 Kinder«. Enzensberger gratuliert dem Plakat, »tüchtig, die Dame, vereint Familie und Beruf, das ist doch was«.
    Zwei Miniaturplakate für »Die Violetten«, mit Heftzwecken um einen Laternenmast getackert, »für spirituelle Politik«, so so. Die haben, vermutet Enzensberger, wohl kein Geld für ordentliche Holzständer.
    Jürgen Lochbichler von der Freien Wählervereinigung animiert per Plakat: »Geben Sie Ihrem Protest ein Gesicht!«, er schlägt seins vor, ein gutes Protestgesicht, dazu noch einen Reim, das freut natürlich Enzensberger: »Diesmal die Freien / Nicht die Parteien«.
    Die Welt der Politik, sagt Enzensberger, sei für einen Dichter eine nicht unergiebige Abraumhalde. Die Poesie, sage er immer, sei ja ein

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