Auch Deutsche unter den Opfern
Geschirr; mein Hosenbund sitzt gegenwärtig ungefähr auf Brusthöhe. Bei Clemens Schick sah das irgendwie besser aus.
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Finale auf der Fanmeile
Der Schritt durch die Absperrung ist wie der Grenzübertritt in ein fernes, unbekanntes Land. Man ist nervös, gespannt, auf alles gefasst. Hinter dieser Grenze wird eine andere Sprache gesprochen, die Menschen verhalten sich anders als man es kennt; Ernährung, Kleidung, Sitten, Gesetze – alles anders. Ganz anders.
Dabei befinden wir uns zweifellos in Deutschland, oder vielmehr in Deutsch-laaaand!/Deutsch-laand!/Deutsch-laaaand!/Deutsch-laand! Die Fanmeile ist ein Deutschlandkonzentrat, ein Deutschland im Quadrat. So sehr wird hier Deutschland gerufen, geflaggt, ja beschworen, dass man vielleicht wirklich in einem anderen Land ist. Auf jeden Fall kann man sagen, dass die angeblich mehr als fünfhunderttausend Menschen hier zu allem bereit sind. Es wird geschrien, getanzt, gesungen, getrötet, gepfiffen, gebratwurstet und natürlich gebiert. Ganz viel gebiert. Mein Fahrrad habe ich direkt neben dem Reichstag an einen Zaun gekettet, hinter dem ein paar Polizisten streng guckend rauchen, da ist es halbwegs sicher. Ob seine Überlebenschancen bei einem deutschen Sieg oder bei einer Niederlage größer sind, wird sich zeigen.
Bevor das Spiel beginnt, geht es vor allem darum, ins Fernsehen oder wenigstens in die Zeitung zu kommen. Um von den Kameramännern und Fotografen wahrgenommen zu werden, ist es von Vorteil, möglichst am ganzen Körper schwarzrotgold bemalt, geschmückt oder tätowiert zu sein. Auch originelle Kopfbedeckungen und emotionale Verausgabung erhöhen die Chancen. Außerdem müssen alle Freunde und Bekannten, die nicht hier sind, mit Anrufen und Handybildern live darüber informiert werden, wie es hier ist. Supergenial ist es hier, sagen die Mädchen in ihre Telefone; die Jungs sagen: obergeil. Wer sich besonders auffällig verhält, wird sogar interviewt. Interviewt zu werden, macht anscheinendbesonders glücklich. Es ist so laut drumherum, dass die Interviewten die Fragen kaum verstehen, aber das macht nichts, die richtige Antwort ist immer: Deutschland! Oder auch: Fiiinaaale, o-ho / Fiiinaaale, o-ho-ho-ho!
Auf der Bühne vor dem Brandenburger Tor verausgaben sich verschiedene Musikformationen. Man kriegt es nicht so richtig mit, nur den Bass, der lässt den Körper vibrieren, den sowieso schon vibrierenden Körper. Finale, oho! Zwischendurch sagt ein Moderator schmeichelhafte Dinge, um die Menschen bei Laune zu halten. Ihr seid geil, sagt er zum Beispiel, und wer hört das nicht gern. Auch versucht er, diverse chorische Schreiereien mit uns einzuüben, aber nur eine klappt hier wirklich im Massenchor: Bao-ba-ba-ba-ba-bao-bao, das Mitsingen zum Riff des Hits »Seven Nation Army« von den White Stripes, was wir natürlich aus dem Fernsehen kennen, da singen die das ja auch immer, in den Stadien. Vor allem kann man sich den Text so gut merken, es gibt nämlich gar keinen. Aber das Schöne am Betrunkensein ist doch, dass man eigentlich jedes Lied mitsingen kann. Und die mit Text, na ja, da singt man halt, was einem gerade so einfällt, Hauptsache laut. Geht alles, irgendwie. So, wie den Männern hier auch jede Art senkrechte Fläche als Urinal geeignet scheint: Absperrgitter, Imbissbuden, Bäume, Müllcontainer – oder ein Polizeiauto. Und wie auch alles gegessen wird, was auf dem Grill lag, egal wie es aussieht.
Die Hymnen: Die spanische wird niedergepfiffen, aha. Sogenannte unfaire Fans also. Der Mensch in der Masse, er neigt nun mal dazu, sich danebenzubenehmen. Die deutsche Hymne wird mitgesungen, im ungewollten Kanon, aber sehr überzeugt. Von sich, von »uns«. Unter dem riesigen Bildschirm stehen jetzt viele Fotografen und Kameraleute auf der Bühne, das animiert zusätzlich zu aufgedrehtem Jubeln. Stimmung also entsteht hier zunächst durch Darstellung von Stimmung. Daran kann man aber ja anknüpfen: Auf geht’s, Deutschland, schieß ein Tor, schieß ein Tor, schieß ein To-ho-hor!
So seh’n Sieger aus, schalalalala!
Und das immer schöne: Hu-Hu-Hubschraubereinsatz!
Anpfiff, es geht also los, es wird also geschrien. Nach einer frühen Lehmann-Glanztat ist zum ersten Mal kollektive Angst zu spüren. Was, wenn wir doch nicht so gut sind – oder die Spanier einfach besser? Überheblichkeit weicht kleinlautem Fluchen. Jubelanlässe sind jetzt vor allem geglückte Lehmann-Paraden. Als die deutsche Mannschaft zusehends rumgurkt, sind
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