Auch Deutsche unter den Opfern
Gedächtniskirchen-Weihnachtsbaum? Nun ja, das Nadelwerk ist im unteren Baumdrittel recht bräunlich. Und Überlänge kann man ihm auch nicht attestieren.
Lokalpatriotismus in allen Ehren, aber, spricht der Polizist, vielleicht hätte man doch besser einen Baum aus Bayern oder Thüringen importiert? Egal, man ist ja nicht von der Geschmacks-, sondern von der richtigen Polizei, also mal eine Frage an den im Gehölz auf dem Anhänger turnenden, mit Seilen hantierenden Mitarbeiter des Transportunternehmens Lex, ob denn – wie es nun mal vorgeschrieben sei – jemand innerhalb der letzten Stunde die geplante Strecke abgefahren sei, um zu gucken, ob dem Baumtransport nichts im Weg stehe? Nee, irgendwie leider nicht. Der Polizist lacht noch einmal kurz fast höhnisch auf, um dann sehr ernst den Kopf zu schütteln. Tja dann – Vorschrift sei Vorschrift. Leise fluchen die Lex-Angestellten, einer von ihnen fährt also die Route ab, die anderen packen Brote und Zigaretten aus: polizeilich verordnete Pause.
Ein paar ältere Damen und Herren aus der Kleingartensiedlung stehen mit hinterm Rücken gefalteten Händen um den Tieflader herum, die Herren unterhalten sich fachmännisch über technische Details des Fahrzeugs und Schwierigkeiten beim Transport größerer Gegenstände, die Damen überlegen, wie sie diesen Baum schmücken würden. Die Polizisten kontrollieren derweil pflichtversessen weiter, sind denn überhaupt die Reifenprofile des Tiefladers in Ordnung? Ist die ganze Ladung nicht eventuell ein paar Zentimeter breiter als angemeldet? Leider kein weiterer Fehler, die Lage entspannt sich etwas, und als dann der vorausgeschickte Spähwagen meldet, dass die Strecke hindernisfrei ist, wird es versöhnlich: Polizisten und Transporteure geben einander Feuer, machen Witzchen, »Lex« heißt auf Deutsch schließlich Gesetz, also, man versteht sich jetzt gut, zieht gemeinsam über andere her, das wärmt immer: Man könne ja bei der Berliner Stadtreinigung anrufen, dass die gleich mit dem Baum zu befahrende Strecke nach dem Transport vorerst gereinigt sei, fegen doch die herunterhängenden Zweige gratis die Straßen, hehe, und übrigens, ob man den schon kenne: BSR = Bei Schnee ratlos? Hoho, nee, den kannte man noch nicht. Einigkeit auch darüber, dass der Baum keine Schönheit ist, also dann, packen wir’s.
Zur Verteidigung des Baumes sei gesagt, dass Weihnachtsbäume nie ungeschmückt (und erst recht nicht liegend und zum Transport verschnürt) beurteilt werden dürfen. Für sie gilt dasselbe wie für Damen, die man aus Versehen etwas zu früh zu einem abendlichen Vorhaben abholt und die einem dann missvergnügt, mit Lockenwicklern im Haar, Quarkmaske im Gesicht und Epiliergerät in der Hand die Tür öffnen: Ihre verzaubernde Wirkung entfalten sie erst in vollem Ornat, bitte bis zum Ende aller Dekorationsbemühungen die kritischen Augen schließen.
Wie ein hochrangiger Politiker oder Staatsbesucher wird der Baum auf seinem Transporter nun eingerahmt von Polizeifahrzeugen, die ihr Blaulicht einschalten und an keiner roten Ampel halten müssen. Jetzt sieht die Fichte schon respektabler aus, wie sie so gut bewacht und mit
Vorfahrt durch Berlin chauffiert wird. Ein paar Zweige knicken unterwegs ab, was müssen die Ampeln auch so tief hängen.
Vor der Gedächtniskirche wird der Baum von einem Kran aufgerichtet und in das Weihnachtsbaumloch vor der Kirchentür gestielt, die Glocken läuten ihm ein Willkommen. Die Berliner mit ihrer reflexhaften und ja auch gesunden Skepsis gegenüber jedem Hochamt machen zwar ihre üblichen Gags (»Bringt dit Ding lieber gleich zu die Elefanten, dit spart Kosten!«), klatschen aber dann doch, als der Baum steht. Nee, der sieht schon janz jut aus; ein bisschen zerzaust, ein wenig geduckt, vom Leben gezeichnet – passt doch insofern hervorragend zur Gedächtniskirche. Und zu uns selbst. Makellose Perfektion, bei Menschen wie bei Pflanzen, heißt, sie sind aus Plastik. Hallo Baum, wir mögen dich.
[ Inhalt ]
Falcos zehnter Todestag
Wien, im Januar 2008: Es geht um Denkmalpflege. Das Kulturerbe muss gerettet, der Verfall durch permanente Restaurierung verhindert und die Erinnerung wachgehalten werden, sagt Maria-Luise Heindel und gibt einer Mitarbeiterin noch schnell ein paar Anweisungen, um dann zur Mittagspause zu schreiten. Maria-Luise Heindel ist Generalsekretärin des Vereins »Unser Stephansdom«, früher war sie mal so etwas wie die Sekretärin des österreichischen Nationalheiligtums
Weitere Kostenlose Bücher