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Auch Deutsche unter den Opfern

Auch Deutsche unter den Opfern

Titel: Auch Deutsche unter den Opfern Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Benjamin Stuckrad-Barre
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der Autopresse steht ein älterer Herr, der im Selbstgespräch ziemlich originell über Varianten des Wertstoff-Recyclings nachdenkt: Die KaDeWe-Schmuckdiebe, murmelt der Mann, müssten doch nur Edelsteine und Gold trennen, das Gold einschmelzen – separat lasse sich beides bestimmt leicht verhökern. Man kommt in dieser Umgebung eben schnell auf unromantische Gedanken: In anderen Stadtteilen wird in diesem »Superjubiläumsjahr« sehr umfangreich der bedeutenden runden Jahrestage gedacht (Beginn des Zweiten Weltkriegs, Gründung der Bundesrepublik, Mauerfall) – doch gegenüber der Autopresse Tempelhof erinnert ein Plakat so dumpf wie bodennah an »30 Jahre Media Markt«. Das kann helfen, falls man beim letzten Antippen des Duftbaums kurz sentimental wird.

[ Inhalt ]
    Guido Westerwelle im Bundestagswahlkampf
    Am Abend dann endlich ein kurzer Moment, in dem Guido Westerwelle nicht weiterweiß und plötzlich ganz kleinlaut wird, für ein paar Sekunden, immerhin. Beim Sommerfest des ZDF, auf der Terrasse der Berliner Neuen Nationalgalerie, müssen viele Hände geschüttelt werden, Politik und Gesellschaft prosten dem Sonnenuntergang zu, Westerwelle hastet von Grüppchen zu Grüppchen, er hat nur eine halbe Stunde für dieses Fest einkalkuliert und schlägt die ihm alle paar Meter angebotenen Gläser aus, nicht ohne Stolz: »Ich bin gleich noch zu Gast in einer Fernsehsendung!«.
    Guido Westerwelle ist dieser Tage ein gefragter Mann; Wahlergebnisse und Umfragewerte der FDP indizieren stabil die Möglichkeit einer Regierungsbeteiligung ab Herbst, so oder so. Sein Selbstbewusstsein ist also endlich kein Leerverkauf mehr.
    Doch nun ruft ihn gebieterisch Peer Steinbrück, der da mit Hubertus Heil und anderen herumdröhnt, ein Glas Wein in der Hand, augenscheinlich weder das erste noch das letzte an diesem Abend – Peer Steinbrück hat heute wohl keinen Fernsehauftritt mehr: »Rüberkommen hier, Westerwelle! Keine Angst, wir reden nicht über Politik – wir sprechen hier über Literatur!« Auch das sei ihm zu anstrengend an einem so schönen lauen Abend, entgegnet Westerwelle, folgt aber dem Ruf des Finanzministers, der jetzt sehr engagiert drei Leseempfehlungen für den Sommerurlaub einfordert, »und hinterher wird das dann abgefragt!«. Steinbrück schwingt abzählbereit den Arm in die Waagerechte, den Daumen schon gereckt: »Los, erstens!«
    Als Beobachter hätte man einen hohen Geldbetrag verwettet, dass Westerwelle jetzt schneidig witzelnd »Na, Ihnen empfehle ich Helmut Schmidts ›Außer Dienst‹, Herr Kollege« einfällt oder »Sie sollten malwieder Ludwig Erhard lesen, Herr Finanzminister!«, schließlich sind viele Kameras auf die beiden gerichtet. Geriert er sich gewöhnlich als unduldsamer Nachhilfelehrer, steht Westerwelle dem Koloss Steinbrück jedoch nun als hilfloser Schüler gegenüber, leise nach der richtigen Antwort tastend: »Also, den neuen Kehlmann möchte ich endlich schaffen, ›Ruhm‹, das liegt schon so lange neben meinem Bett.«
    Enttäuscht lässt Steinbrück die Abzählhand sinken. Mit Kehlmann kann man nichts falsch machen, gewiss, doch war dies die denkbar ärmlichste Antwort, wahrscheinlich sogar ernst gemeint: Der gar nicht mehr so neue Kehlmann, über den vor einem knappen halben Jahr alle etwa zehn Tage lang gesprochen haben. In diesem Moment, da Westerwelle endlich mal nicht auftrumpft, erscheint er einem, nach einem langen Tag der Begleitung, zum ersten Mal zugänglich. Jetzt war er ganz kurz mal kein frischwärts programmierter Steuersparroboter, keine apodiktische Nervensäge – angenehm!

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    Am späten Vormittag hatte er nach der Sitzung des Parteipräsidiums zur Pressekonferenz geladen, stand mit blau-gelber Krawatte vor einem ansehnlichen Mikrophonstrauß im Thomas-Dehler-Haus und konnte wie üblich alles, alles erklären: Aufwärts kann es sowieso nur mit der FDP gehen. Steuern runter, und dann wird das schon wieder. Wer seinen Bürgerentlastungsplänen düstere Berechnungen sogenannter Wirtschaftsweiser entgegenhielt, wurde forsch abgebügelt: »Es ist das gute Recht von Professoren, alles Mögliche zu behaupten.« Westerwelle hielt einen dicken Packen DIN-A4-Blätter hoch und schwenkte ihn anklagend, das liberale Sparbuch, 400 Einsparungsmöglichkeiten mit einem Gesamtvolumen von über zehn Milliarden Euro, und das sei erst der Anfang. Entwicklungshilfe für China, das muss ja wohl nicht sein!
    Anschließend empfing er in seinem Büro einen Fotografen und einen Reporter

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