Auch Engel Moegens Heiss
erzählen, aber wem? Die städtische Polizeistation war der nächstliegende Ansprechpartner, aber würde man sie dort überhaupt ernst nehmen? Der Bürgermeister sollte die Bibliothekarin umbringen wollen? Weil er Russinnen ins Land schmuggeln wollte? Na klar. Äußerst glaubhaft.
Zumindest musste sie Daisy warnen. Jennifer fasste schon nach dem Telefon, hielt aber in der Bewegung inne, bevor sie den Hörer erreicht hatte. Wenn sie Temples Telefonate belauschen konnte, dann konnte er auch ihre belauschen.
Sie hatte Zeit bis zur Mittagspause; dann würde Sykes versuchen, Daisy zu kriegen.
Wen sollte sie also anrufen? Das Sheriffbüro von Jackson County? Das FBI in Huntsville? Oder die Einwanderungsbehörde? Das Sheriffbüro nicht, dachte sie; Temple hatte sein Netz weit gespannt, und die Männer des Sheriffs waren ihr ein bisschen zu nahe. Andererseits fuhr Temple oft nach Huntsville; ob er auch Verbindungen zur Bundespolizei hatte? Bestimmt nicht. Trotzdem wollte sie ihn keinesfalls unterschätzen; sie hatte eine Chance, aber nur diese eine Chance, ihn loszuwerden, ohne dabei das Minimum an Zuneigung, das ihre Kinder für sie empfanden, auch noch zu verlieren.
Sie versuchte nachzudenken, eine Anstrengung, die sie sich allzu lange verwehrt hatte. Eine Freundin, die sie um Hilfe oder Rat bitten konnte, hatte sie nicht. Ihre Eltern waren nach Florida gezogen, und ihr einziger Bruder hatte seit Jahren nicht mehr mit ihr gesprochen; wahrscheinlich hatte sie nicht einmal mehr seine Telefonnummer. Ab wann hatte sie sich eigentlich so isoliert?
Sie musste irgendetwas unternehmen, und sei es nur, dass sie zur Bücherei fuhr und Daisy warnte. Nicht einmal das musste sie. Sie brauchte nur zu warten, bis Temple das Haus verlassen hatte, damit er sie nicht belauschen konnte, und dann bei Daisy anzurufen, um sie zu warnen. Fürs Erste würde das genügen, aber danach musste sie sich überlegen, wie sie Elton Philipps und ihrem Ehemann ein für alle Mal Einhalt gebieten konnte.
Evelyn ließ alles stehen und liegen, zog sich an und fuhr sofort zu Daisy. Noch auf der Türschwelle, nagelte sie Jack mit einem bohrenden Mutterblick fest und wollte wissen: »Was geht
hier vor, dass Sie glauben, jemand könnte mir folgen, warum sollen wir niemandem verraten, wo Daisy hingezogen ist, und warum musste ich ihre Nummer aus meiner Anruferkennung löschen?«
»Sie wurde möglicherweise Zeugin eines Mordes«, antwortete Jack, der gerade seinen Teller in die Spüle stellte.
»Ach du meine Güte.« Zittrig ließ Evelyn sich auf den Stuhl sinken, den Jack eben frei gemacht hatte. Midas tollte zur Begrüßung wie aufgezogen um ihre Füße herum, sodass sie sich unwillkürlich vorbeugte, um ihn zu kraulen.
»Der Leichnam wurde in Madison County gefunden, deshalb bringe ich sie nach Huntsville, damit sie dort ihre Aussage macht. Sorgen macht mir vor allem, dass jemand ihr Kennzeichen weiß und ihren Namen herausfinden wollte; das lässt vermuten, dass irgendwer sie ausfindig machen möchte. Möglicherweise bin ich ein bisschen übervorsichtig, aber bis die Sache geklärt ist, muss sie sich verstecken.«
»Sie reden von meiner Tochter. Da können Sie gar nicht vorsichtig genug sein. Sie unternehmen alles, damit ihr nichts passiert, haben Sie verstanden?«
»Jawohl, Madam. Sie sollten währenddessen alle ihre Verwandten warnen, keine Auskünfte über Daisy zu geben. Niemand darf etwas über sie erfahren, nicht einmal der Bürgermeister. Vielleicht ist er in die Sache verstrickt.«
»Ach du meine Güte«, sagte Evelyn wieder. »Temple Nolan?«
»Er hat mich gebeten, ihr Autokennzeichen zu überprüfen.«
»Wahrscheinlich gibt es eine ganz einfache Erklärung -«
»Würden Sie dafür Daisys Leben aufs Spiel setzen?«
»Nie und nimmer.«
Während die beiden sich unterhielten, hatte Daisy methodisch und mit nachdenklicher Miene die Küche aufgeräumt. »Wenn der Bürgermeister in die Sache verwickelt ist, dann kennt er uns alle: Mutter, Tante Jo, Beth, mich. Falls es tatsächlich darum gehen sollte, mich mundtot zu machen, dann
schweben sie ebenfalls in Gefahr. Er weiß genau, dass ich alles unternehmen würde, um sie zu beschützen.« Sie schaute Jack an; in ihrem blassen Gesicht leuchteten die Augen noch intensiver. »Können Sie alle bewachen lassen? Nicht nur Beth, sondern auch Nathan und die Jungs?«
Er zögerte kurz und entschied sich dann für die Wahrheit. »Nur vorübergehend. Es ist eine Geldfrage. Wir können nicht
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