Auch Engel Moegens Heiss
sein Kinn. »Dürfte ich deinen Rasierer ausborgen? Ich will dich nicht allein lassen, um mich zu Hause zu rasieren.«
Daisy machte sich fertig, während er in ihrem Schlafzimmer telefonierte. Immer wieder streckte sie den Kopf aus dem Badezimmer, um mitzubekommen, was er sagte, konnte aber kaum ein Wort verstehen. Schließlich gab sie auf und konzentrierte sich ganz aufs Schminken, den Blick fest in den Spiegel gerichtet und mit dem Gefühl, in einem Albtraum gefangen zu sein. Sie war doch nur Daisy Minor, eine Bibliothekarin, die zeit ihres Lebens in dieser Kleinstadt gelebt hatte. Menschen
wie sie rechneten nicht damit, dass ihnen so etwas widerfahren könnte. Doch kaum hatte sie beschlossen, auf Männerjagd zu gehen, wurde sie von Männern gejagt. Offenbar war ganz allgemein die Jagdsaison eröffnet.
Jack kam ins Bad. »So, mit deinen Verwandten ist alles geregelt. Meine Leute werden deine Mutter und deine Tante zu Beth begleiten. In ein paar Stunden müssten alle in Sicherheit sein.«
»Gut.« Sie beugte sich vor, legte etwas Lippenstift auf und trat dann zurück. »Das Bad ist jetzt frei. Der Rasierer ist im Medizinschrank.«
Temple trödelte mit seinem Frühstück, das aus frisch gepresstem Orangensaft und einem Bagel mit Streichkäse bestand. Normalerweise ging er um acht Uhr dreißig aus dem Haus, doch heute saß er um acht Uhr fünfundvierzig immer noch am Esstisch. Patricia, ihre Köchin und Haushälterin, kam aus der Küche, um die Betten zu machen und Wäsche zu waschen.
Jennifer brachte keinen Bissen herunter; das kam öfter vor, doch sonst aß sie nichts, weil sie zu verkatert dafür war; heute war ihr schlecht, weil ihre Nerven unter Hochspannung standen. Schweigend saß sie da, nippte hin und wieder an ihrem Kaffee und wünschte sich, sie könnte einen Schuss Whisky hineinkippen, ohne das allerdings zu wagen. Sobald sie den ersten Schuss hineinkippte, würde der zweite folgen - und wenig später würde sie völlig auf den Kaffee verzichten. Ihre Hände zitterten so stark, dass sie die Finger gegen die Tasse pressen musste und das Beben mit Willenskraft zu unterdrücken versuchte, während sie gleichzeitig insgeheim flehte, dass Temple bald verschwinden würde, weil sie nicht wusste, wie lange sie es noch aushalten würde.
Er redete nicht mit ihr, doch das war keine Seltenheit. Auch wenn sie im selben Haus wohnten, führten sie getrennte Leben. Er erzählte ihr nicht mehr, bei welchen gesellschaftlichen Anlässen
man sie als Bürgermeistersgattin erwartet hätte; er erzählte ihr überhaupt nichts mehr, weder wohin er ging, noch wann sie ihn zurückerwarten konnte. Er erzählte ihr nichts über seinen Tagesablauf; er erzählte ihr nicht einmal mehr, wenn eines der Kinder bei ihm angerufen hatte, obwohl sie aus einigen ihrer Bemerkungen geschlossen hatte, dass sie regelmäßig mit ihm sprachen. Anscheinend telefonierte er im Rathaus mit ihnen, denn zu Hause riefen sie niemals an.
Vielleicht hatte sie die beiden schon unwiderruflich verloren, dachte sie und schluckte den Ekel herunter, der auf einer Blase von Kummer nach oben steigen wollte. Ihre Babys … natürlich waren sie inzwischen erwachsen, doch eine Mutter vergaß niemals die Zeit, als sie aus ihrem Bauch gekommen waren, als sie noch so klein und hilflos gewesen waren, dass sie als Mutter für ihre Kinder die ganze Welt bedeutet hatte und umgekehrt.
Ihre Kinder schämten sich für sie. Sie wollten nicht mit ihr reden, nicht in ihrer Nähe sein. Temple hatte ihr das angetan, doch sie hatte ihm dabei Hilfestellung geleistet. Sie hatte Zuflucht in der Flasche gesucht, statt der Wahrheit ins Gesicht zu sehen: dass der von ihr geliebte Mann sie nicht liebte, sie nie geliebt hatte, sie niemals lieben würde. Sie war für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Eigentlich hätte sie ihre Kinder packen und ihn verlassen sollen, ganz gleich, wie viel Schlamm während der Scheidung geschleudert worden wäre - denn eine Schlammschlacht wäre es mit Sicherheit geworden, so gut kannte sie Temple inzwischen -, sie hätte zumindest ihren Stolz behalten, und ihre Kinder würden sie nun nicht verachten.
Jennifer schaute auf die Uhr. Fünf vor neun. Wieso war er immer noch hier?
Das Läuten des Telefons ließ sie hochschrecken. Temple stand auf, schaltete den schnurlosen Apparat ein, ging damit in sein Büro und schloss die Tür hinter sich.
Darum also; er hatte auf einen Anruf gewartet.
Bebend nahm sie ihre Kaffeetasse mit nach oben in ihr Schlafzimmer,
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