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Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories

Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories

Titel: Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Agatha Christie
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daß ich euch beide gefunden habe!« rief er aus.
    »Was ist denn nur los, Roger?«
    »Dein alter Herr, Vincent. Unglücklicher Sturz. Junges Pferd.«
    Der Rest der Worte entging uns, da er Vincent beiseite zog. Nach wenigen Minuten verabschiedeten sich unsere beiden Freunde in großer Eile von uns; denn Vincent Lemesuriers Vater hatte beim Einreiten eines jungen Pferdes einen schweren Unfall erlitten, und man glaubte nicht, daß er die Nacht überstehen würde. Vincent war beim Empfang der Nachricht leichenblaß geworden und schien wie betäubt zu sein. Darüber war ich eigentlich ein wenig erstaunt; denn den paar Worten, die er in Frankreich über seine Familie fallen ließ, hatte ich entnommen, daß er sich mit seinem Vater nicht sonderlich gut verstand. Ich konnte mir daher seine scheinbare Ergriffenheit nicht erklären.
    Der dunkelhaarige junge Mann, der uns als Vetter Roger Lemesurier vorgestellt worden war, blieb bei uns, und wir gingen langsam zusammen hinaus.
    »Etwas seltsam, das Ganze«, bemerkte der junge Mann. »Es würde vielleicht Monsieur Poirot interessieren. Ich habe nämlich von Ihnen gehört, Monsieur Poirot – und zwar durch Higginson.« (Higginson war unser Freund, das hohe Tier aus dem Kriegsministerium.) »Er behauptet, Sie seien auf dem Gebiete der Psychologie geradezu ein Phänomen.«
    »Ich befasse mich allerdings etwas mit Psychologie«, gab mein Freund vorsichtig zu.
    »Haben Sie das Gesicht meines Vetters beobachtet? Die Nachricht hat ihn doch geradezu umgeworfen, nicht wahr? Und wissen Sie, warum? Weil ein richtiger altmodischer Familienfluch auf den Lemesuriers lastet. Interessiert Sie das?«
    »Sehr liebenswürdig von Ihnen, wenn Sie mir davon erzählen wollen.«
    Roger Lemesurier blickte auf seine Uhr.
    »Noch sehr viel Zeit. Ich treffe meine Verwandten am Bahnhof King’s Cross. Die Lemesuriers sind eine alte Familie, Monsieur Poirot. Im Mittelalter überraschte ein Lemesurier seine Frau in einer verfänglichen Situation, die seinen Verdacht gegen sie erregte. Sie beschwor ihre Unschuld. Aber der alte Baron Hugo hörte nicht auf sie. Sie hatte ein Kind, einen Sohn, und der Baron schwor, der Junge sei nicht sein Kind und solle ihn niemals beerben. Ich weiß nicht mehr, was dann passierte. Wahrscheinlich hatte er eine jener neckischen mittelalterlichen Ideen und mauerte Mutter und Sohn lebendig ein. Jedenfalls brachte er sie alle beide um. Sterbend beteuerte seine Frau ihre Unschuld und verfluchte feierlichst die Lemesuriers bis in alle Ewigkeit. Kein erstgeborener Sohn eines Lemesurier sollte je sein Erbe antreten – so lautete der Fluch. Nach geraumer Zeit wurde die Unschuld der Dame einwandfrei bewiesen. Hugo zog sich daraufhin ein Büßerhemd an und beendete seine Tage auf den Knien in einer Mönchszelle. Merkwürdig aber ist, daß bis auf den heutigen Tag kein Erstgeborener je den Familienbesitz übernommen hat. Geerbt haben stets Brüder, Neffen, zweite Söhne – niemals aber der Älteste. Vincents Vater war der zweite von fünf Söhnen; der älteste starb als Kind. Durch den ganzen Krieg hindurch war Vincent natürlich felsenfest davon überzeugt, daß er nicht lebend aus dem Schlamassel herauskommen würde. Merkwürdigerweise fielen jedoch seine beiden jüngeren Brüder, während er selbst mit heiler Haut davonkam.«
    »Eine interessante Familiengeschichte«, sagte Poirot nachdenklich. »Aber jetzt liegt sein Vater im Sterben, und er als der älteste Sohn erbt doch, nicht wahr?«
    »Stimmt. Der Fluch ist anscheinend rostig geworden, ist wohl den zersetzenden Einflüssen des modernen Lebens nicht gewachsen.«
    Poirot gefiel der scherzende Ton des anderen nicht, und er schüttelte mißbilligend den Kopf. Roger Lemesurier blickte wieder auf die Uhr und erklärte, er müsse sich nun beeilen.
    Damit war aber die Geschichte keineswegs zu Ende. Am nächsten Morgen erreichte uns die Nachricht von Vincent Lemesuriers tragischem Tod. Er war mit dem schottischen Expreß nach Norden gereist und muß in der Nacht die Abteiltür geöffnet haben und hinausgesprungen sein. Man nahm an, daß der Schock über den Tod seines Vaters und eine im Kriege erlittene Nervenerschütterung eine zeitweilige geistige Umnachtung verursacht hatten. Der seltsame in der Familie herrschende Aberglaube wurde auch erwähnt in Verbindung mit dem neuen Erben, dem Bruder seines Vaters, Ronald Lemesurier, dessen einziger Sohn im Krieg gefallen war. Unser zufälliges Zusammentreffen mit dem jungen Vincent am

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