Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
letzten Abend seines Lebens mußte wohl unser Interesse an allen Ereignissen in der Familie Lemesurier geschärft haben; denn zwei Jahre später lasen wir mit ziemlicher Anteilnahme die Nachricht vom Tode Ronald Lemesuriers, der bereits vor dem Antritt des Familienerbes immer gekränkelt hatte. Erbe wurde sein Bruder John, ein gesunder, rüstiger Mann, der einen Jungen in Eton hatte.
Ganz gewiß warf ein böses Geschick seine dunklen Schatten über die Lemesuriers; denn schon in den nächsten Ferien brachte es dieser Junge fertig, sich mit einer Jagdflinte tödlich zu verletzen. Dann starb sein Vater ganz plötzlich an den Folgen eines Wespenstiches, und damit gelangte der Besitz in die Hände des jüngsten der fünf Brüder – Hugo, den wir ja an jenem verhängnisvollen Abend im Carlton getroffen hatten. Wir hatten die zahlreichen merkwürdigen Unglücksfälle der Familie Lemesurier wohl besprochen, aber darüber hinaus kein persönliches Interesse daran genommen. Die Zeit war jedoch nicht mehr fern, wo wir eine aktivere Rolle spielen sollten.
Eines Morgens ließ sich Mrs. Lemesurier bei uns melden. Sie war eine große, energische Frau von etwa dreißig Jahren, deren ganzes Auftreten sehr viel Entschlossenheit und einen ausgeprägten gesunden Menschenverstand verriet. Sie sprach mit einem etwas amerikanischen Akzent.
»Monsieur Poirot? Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Mann, Hugo Lemesurier, ist Ihnen einmal vor vielen Jahren begegnet, aber Sie werden sich wahrscheinlich seiner nicht entsinnen.«
»Aber ganz genau, Madame. Es war im Carlton. «
»Sie haben ja ein fabelhaftes Gedächtnis, Monsieur Poirot. Ich komme heute zu Ihnen, weil ich mir ziemliche Sorgen mache.«
»Worüber, Madame?«
»Mein ältester Junge – ich habe nämlich zwei Söhne. Ronald ist acht und Gerald sechs –«
»Fahren Sie fort, Madame. Warum machen Sie sich Sorgen um den kleinen Ronald?«
»Monsieur Poirot, innerhalb der letzten sechs Monate ist er dreimal um Haaresbreite dem Tod entronnen. Einmal wäre er fast ertrunken. Das war diesen Sommer, als wir alle unten in Cornwall waren. Das zweitemal fiel er aus dem Fenster des Kinderzimmers, und das drittemal hatte er Fischvergiftung.«
Vielleicht spiegelte Poirots Gesicht seine Gedanken ein wenig zu deutlich wider; denn Mrs. Lemesurier fuhr fast ohne Pause fort:
»Ich weiß natürlich, daß Sie mich für eine sehr törichte Frau halten, die aus einer Mücke einen Elefanten macht.«
»Durchaus nicht, Madame. Man kann es jeder Mutter nachfühlen, wenn sie sich über solche Vorkommnisse aufregt. Aber es ist mir nicht ganz klar, was ich dabei tun kann. Ich bin nicht der liebe Gott, der den Wogen gebietet; für das Kinderzimmerfenster möchte ich ein eisernes Gitter vorschlagen, und was das Essen anbelangt, nun, was kommt schon der Sorgfalt einer Mutter gleich?«
»Aber warum passiert dieses alles nur Ronald und nicht Gerald?«
»Zufall, Madame – le hasard! «
»Glauben Sie?«
»Was halten Sie selbst denn davon, Madame – Sie und Ihr Mann?«
Ein Schatten glitt über Mrs. Lemesuriers Gesicht.
»Es hat keinen Sinn, Hugo damit zu kommen. Er hört einfach nicht auf mich. Wie Sie vielleicht wissen, soll ein Fluch auf der Familie ruhen – kein ältester Sohn kann erben. Hugo glaubt fest daran. Er steht ganz im Banne der Familiengeschichte und ist abergläubisch bis dorthinaus. Wenn ich mit meinen Befürchtungen zu ihm komme, sagt er einfach: ›Es ist der Fluch, und wir können ihm nicht entrinnen.‹ Ich aber stamme aus den Vereinigten Staaten, Monsieur Poirot, und drüben glauben wir nicht unbedingt an Flüche. Wir sind zwar der Ansicht, daß sie zu einer wirklich erstklassigen alten Familie gehören, und in dem Sinne lieben wir sie. Sie geben der Familie ein gewisses Gepräge, nicht wahr? Ich war nur eine Schauspielerin mit einer kleinen Rolle in einer musikalischen Komödie, als ich Hugo kennenlernte, und ich war natürlich von dem Familienfluch restlos begeistert. Darüber läßt sich an Winterabenden am lodernden Kaminfeuer gut plaudern. Aber wenn es sich um die eigenen Kinder handelt, hört der Spaß auf. Ich hänge nämlich sehr an meinen Kindern, Monsieur Poirot, und würde alles für sie tun.«
»Sie lehnen also die Familienlegende ohne weiteres ab, Madame?«
»Kann eine Legende einen Efeustamm durchsägen?«
»Was sagen Sie da, Madame?«
»Ich sagte: kann eine Legende – oder ein Geist, wenn Sie wollen – einen Efeustamm durchsägen? Von der Angelegenheit in
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