Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
und Sie sollen vierundzwanzig Stunden Vorsprung haben – vierundzwanzig Stunden, bevor ich es der Polizei übergebe.«
Radnor zögerte.
»Sie können nichts beweisen.«
»Meinen Sie? Da kennen Sie Hercule Poirot schlecht. Werfen Sie einen Blick aus dem Fenster, Monsieur. Sie sehen da zwei Männer auf der Straße. Die haben strikten Befehl, Sie nicht aus den Augen zu verlieren.«
Radnor trat ans Fenster und schob das Rouleau etwas beiseite. Mit einem Fluch sprang er zurück.
»Sehen Sie, Monsieur? Unterzeichnen Sie – es ist Ihre beste Chance.«
»Welche Garantie habe ich –«
»Daß ich mein Versprechen halte? Sie haben das Wort von Hercule Poirot. Sie wollen unterzeichnen? Gut. Hastings, seien Sie so gut und ziehen Sie das linke Rouleau halb hoch. Das ist das verabredete Zeichen, daß Mr. Radnor das Haus unbelästigt verlassen darf.«
Fluchend und tobend stürzte Radnor aus dem Zimmer. Poirot nickte sanft.
»Ein Feigling! Ich hab’s ja gewußt.«
»Wie mir scheint, Poirot, haben Sie sich einer strafbaren Handlung schuldig gemacht«, rief ich zornig. »Sie predigen immer gegen Gefühle. Und hier lassen Sie einen gefährlichen Verbrecher aus schierer Sentimentalität entkommen.«
»Das war keine Sentimentalität – das war Raffinesse«, erwiderte Poirot. »Sehen Sie denn nicht, mein Freund, daß wir nicht den geringsten Beweis gegen ihn haben? Soll ich mich etwa hinstellen und zu zwölf sturen Männern von Cornwall sagen: ›Ich, Hercule Poirot, weiß, daß er es getan hat?‹ Sie würden mich auslachen. Nein, mit List und Furcht mußte man ihm das Geständnis abringen. Anders ging’s nicht. Die beiden Bummelanten draußen auf der Straße paßten gut ins Tableau. Ziehen Sie nur das Rouleau wieder herunter, Hastings, das gehörte auch mit zur Maskerade.
Na ja, unser Wort müssen wir halten. Vierundzwanzig Stunden habe ich gesagt, nicht wahr? Vierundzwanzig Stunden muß also der arme Pengelley noch länger Angst schwitzen – und das hat er redlich verdient, denn er hat tatsächlich seine Frau betrogen, und Sie wissen ja, ich halte große Stücke aufs Familienleben. Vierundzwanzig Stunden – und dann? Der Arm von Scotland Yard ist lang! Man wird den Burschen schon kriegen, mon ami, man wird ihn kriegen!«
Das Abenteuer des Kreuzkönigs
»Die Wahrheit«, bemerkte ich, indem ich die Tägliche Rundschau beiseite legte, »ist seltsamer als Dichtung!«
Das war vielleicht keine originelle Bemerkung. Jedenfalls schien sie meinen Freund zu ärgern. Der kleine Mann neigte seinen eiförmigen Kopf zur Seite, klopfte ein nicht vorhandenes Stäubchen von seinen sorgfältig gebügelten Hosen und erklärte:
»Wie tiefsinnig! Was für ein Denker ist doch mein Freund Hastings!«
Ich schluckte meinen Ärger über diese unnötige Stichelei hinunter und tippte auf die Zeitung, die ich weggelegt hatte.
»Haben Sie die Morgenzeitung gelesen?«
»Jawohl. Und nach dem Lesen habe ich sie symmetrisch zusammengefaltet und nicht einfach auf den Boden geworfen, wie Sie es mit Ihrem beklagenswerten Mangel an Ordnung und Methode taten.«
(Das ist das Schlimmste bei Poirot. Ordnung und Methode sind seine Götter, und auf sie führt er alle seine Erfolge zurück.)
»Dann haben Sie also den Bericht über den Mord an dem Impresario Henry Reedburn gelesen. Daher meine Bemerkung. Nicht nur ist Wahrheit seltsamer als Dichtung – sie ist auch dramatischer. Man stelle sich nur die Oglanders vor, diese solide englische Familie der Mittelklasse: Vater, Mutter, Sohn und Tochter; typisch für Tausende von Familien im ganzen Land. Der Familienvater fährt jeden Tag in die City; die Frau sieht im Haus nach dem Rechten. Ihr Leben ist äußerst friedlich und völlig monoton. Gestern abend saßen sie da nun in dem ordentlichen Salon ihrer Vorstadtvilla Daisymead in Streatham und spielten Bridge. Plötzlich, ohne jegliche Warnung, werden die Glastüren nach dem Garten aufgerissen, und eine Frau taumelt ins Zimmer. Auf ihrem grauseidenen Kleid leuchtet ein purpurroter Fleck. Sie äußert nur das eine Wort: MORD! und sinkt bewußtlos zu Boden. Sie erkennen – wahrscheinlich von den Zeitungsbildern her –, daß es Valerie Saintclair ist, die berühmte Tänzerin, die London kürzlich im Sturm erobert hat!«
»Ist das Ihre eigene Beredsamkeit oder die der Täglichen Rundschau? « fragte Poirot.
»Die Tägliche Rundschau stand kurz vor dem Druck und begnügte sich mit den nackten Tatsachen. Aber die dramatischen Möglichkeiten dieser
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