Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
vorstellte.
Miss Freda Stanton war ein äußerst hübsches Mädchen – echter wallisischer Typ – dunkles Haar, dunkle Augen, rosige Wangen. In ihren blitzenden Augen schlummerte ein Jähzorn, den man am besten nicht herausforderte.
»Meine arme Tante«, sagte sie, als Poirot sich vorgestellt und ihr den Zweck seines Besuches erklärt hatte. »Es ist schrecklich traurig. Wäre ich doch nur freundlicher und geduldiger gewesen! Ich habe mir schon den ganzen Morgen bittere Vorwürfe gemacht.«
»Du hast ziemlich viel über dich ergehen lassen«, unterbrach Radnor sie.
»Das ist wohl wahr, Jacob, aber ich bin auch ziemlich jähzornig. Schließlich war es ja nur eine harmlose Torheit von ihr. Ich hätte mich einfach lachend darüber hinwegsetzen sollen. Ihre Idee, daß mein Onkel sie vergiften wollte, ist natürlich völliger Unsinn. Es ging ihr allerdings schlechter, wenn er ihr das Essen gebracht hatte – aber ich bin überzeugt, daß es Einbildung war.«
»Was war die eigentliche Ursache Ihres Zerwürfnisses, Mademoiselle?«
Miss Stanton zögerte und blickte zu Radnor hinüber. Der junge Mann verstand sofort den Wink.
»Ich muß gehen, Freda. Bis heute abend also. Guten Morgen, meine Herren, Sie sind sicher auf dem Wege zum Bahnhof.«
Poirot bejahte dies, und Radnor verschwand.
»Sie sind verlobt, nicht wahr?« fragte Poirot mit einem verschmitzten Lächeln. Freda Stanton gab es errötend zu.
»Und das war eigentlich der ganze Ärger mit meiner Tante«, fügte sie hinzu.
»War ihr die Partie für Sie nicht gut genug?«
»Das gerade nicht. Aber sie –« Das Mädchen schwieg.
»Ja?« drängte Poirot sanft.
»Es will mir nicht so recht über die Lippen – wo sie doch tot ist. Aber Sie werden die Geschichte niemals verstehen, wenn ich es Ihnen nicht sage. Meine Tante war völlig vernarrt in Jacob.«
»Wirklich?«
»Ja, ist das nicht lächerlich? Sie war über fünfzig, und Jacob ist noch nicht ganz dreißig! Aber so war’s nun mal. Sie war ganz verrückt auf ihn. Ich mußte ihr schließlich sagen, daß er meinetwegen kam. Da machte sie eine schreckliche Szene. Sie wollte mir kein Wort davon glauben und war so grob und beleidigend, daß es eigentlich kein Wunder ist, daß ich meine Selbstbeherrschung verlor. Ich sprach mit Jacob, und wir hielten es für das Gescheiteste, daß ich für eine Weile fortging, bis sie wieder zur Vernunft gekommen war. Die arme Tante – sie war wohl überhaupt in einer merkwürdigen Verfassung.«
»Den Anschein hatte es wohl. Ich danke Ihnen, Mademoiselle. Sie haben mir über vieles Klarheit verschafft.«
Zu meinem nicht geringen Erstaunen wartete Radnor unten auf der Straße, bis wir kamen.
»Ich kann mir gut vorstellen, was Freda Ihnen erzählt hat«, bemerkte er. »Es war eine unglückselige Angelegenheit und sehr peinlich für mich, wie Sie sich denken können. Ich brauche wohl nicht zu betonen, daß ich Mrs. Pengelley keinen Anlaß gab. Zuerst war es mir ganz angenehm, da ich mir einbildete, die alte Dame wolle Freda und mir helfen. Die ganze Geschichte war albern – aber im höchsten Grade unangenehm.«
»Wann gedenken Sie Miss Stanton zu heiraten?«
»Bald, hoffe ich. Nun, Monsieur Poirot, ich werde mal ganz offen mit Ihnen reden. Ich weiß nämlich etwas mehr als Freda. Sie glaubt, ihr Onkel sei unschuldig. Davon bin ich nicht überzeugt. Aber ich kann Ihnen eines sagen: ich werde meinen Mund halten. Schlafende Hunde soll man ruhen lassen. Ich möchte nicht, daß der Onkel meiner zukünftigen Frau wegen Mordes angeklagt und gehängt wird.«
»Warum erzählen Sie mir dies alles?«
»Weil ich von Ihnen gehört habe und weiß, daß Sie sehr tüchtig sind. Es ist gut möglich, daß Sie genug Beweismaterial gegen ihn aufspüren. Aber sagen Sie bitte selbst – was hat es für einen Zweck? Der armen Frau wird dadurch nicht geholfen, und sie wäre die letzte, die einen Skandal heraufbeschwören möchte – mein Gott, bei dem bloßen Gedanken würde sie sich im Grabe umdrehen.«
»Darin haben Sie wahrscheinlich recht. Sie wünschen also, daß ich die Sache – vertusche?«
»Sie haben es erfaßt. Ich gebe offen zu, daß es ziemlich egoistisch von mir ist. Aber ich muß auch sehen, daß ich vorankomme. Ich habe gerade ein gutes kleines Schneideratelier gegründet.«
»Die meisten Leute sind Egoisten, Mr. Radnor, nur geben es nicht alle so unumwunden zu. Ich will Ihre Bitte erfüllen. Aber ich sage Ihnen frei heraus: es wird Ihnen nicht gelingen, die Sache zu
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