Auch Pünktlichkeit kann töten: Crime Stories
die Glocke. Mit dem Diener, der die Tür öffnete, verhandelte er im Flüsterton, und wir wurden sofort nach oben geführt. Wir kletterten bis ins oberste Stockwerk, wo man uns in ein kleines, sauberes Schlafzimmer brachte.
Poirots Blicke schweiften im Zimmer umher und blieben schließlich auf einem kleinen schwarzen Koffer haften. Er kniete davor nieder, prüfte die Schlösser und zog schließlich einen kleinen, gebogenen Draht aus der Tasche.
»Fragen Sie Mr. Halliday, ob er die Güte haben will, zu mir heraufzukommen«, sagte er über die Schulter hinweg zum wartenden Diener.
Sobald der Diener gegangen war, hantierte Poirot mit geübter Hand am Schloß herum. In wenigen Minuten gab es nach, und er hob den Deckel. In großer Hast zog er ein Kleidungsstück nach dem anderen aus dem Koffer und warf alles kunterbunt auf den Fußboden.
Ein schwerer Schritt ließ sich auf der Treppe vernehmen. Im nächsten Augenblick trat Halliday ins Zimmer.
»Zum Teufel, was machen Sie da?« fragte er, und die Augen traten ihm vor Staunen fast aus dem Kopf.
»Monsieur, ich suchte – dies!« Damit zog Poirot einen Mantel und Rock aus hellblauer Wolle und ein kleines Barett aus weißem Fuchspelz hervor.
»Was machen Sie denn mit meinem Koffer?« ertönte eine Stimme aus dem Hintergrund. Ich drehte mich um und sah, daß Jane Mason soeben ins Zimmer gekommen war.
»Schließen Sie bitte die Tür, Hastings. Ja, und stellen Sie sich mit dem Rücken dagegen. Mr. Halliday, ich möchte Sie bekanntmachen mit Gracie Kidd, alias Jane Mason, die unter den Fittichen von Inspektor Japp dahin geführt wird, wo ihr Komplice Rot-Narky bereits ihrer harrt.«
Poirot machte eine abwehrende Handbewegung. »Es war höchst einfach.« Und er nahm eine zweite Portion Kaviar.
»Zuerst fiel mir auf, daß die Zofe von selbst das Gespräch auf die Kleidung ihrer Herrin brachte. Warum wollte sie mit aller Gewalt unsere Aufmerksamkeit darauf lenken? Dann fragte ich mich, ob der geheimnisvolle Mann im Abteil nicht ein Produkt ihrer Phantasie war; denn nur sie hatte ihn gesehen. Nach den Aussagen des Arztes konnte Mrs. Carrington ebensogut auf der Strecke vor Bristol ermordet worden sein. In diesem Falle lag es natürlich in ihrem Interesse, ihre Aussagen durch andere bestätigen zu lassen. Die Kleidung, die Mrs. Carrington trug, war sehr auffallend. Eine Zofe kann gewöhnlich ihre Herrin bei der Wahl ihrer Toilette sehr beeinflussen. Wenn nun jemand eine Dame in stahlblauem Mantel und Rock und weißer Pelzmütze bei Bristol gesehen hat, wird er bereitwilligst schwören, daß es Mrs. Carrington gewesen ist. Ich begann, das Verbrechen zu rekonstruieren: Die Zofe beschafft sich zunächst mal dieselbe Kleidung wie ihre Herrin. Sie und ihr Komplice chloroformieren und erstechen dann Mrs. Carrington auf der Strecke zwischen London und Bristol, wahrscheinlich in einem für solche Zwecke günstigen Tunnel. Die Leiche wird unter den Sitz geschoben, und die Zofe spielt fortan die Rolle der Herrin. In Weston muß sie sich bemerkbar machen. Aber wie? Ein Zeitungsjunge ist am besten. Durch ein großes Trinkgeld macht sie einen tiefen Eindruck auf ihn. Außerdem sorgt ihre Bemerkung über das Mädchen des Titelblattes dafür, daß er sich die Farbe ihres Mantels gut einprägt. Hinter Weston wirft sie das Messer zum Fenster hinaus, um die Stelle zu markieren, an der das Verbrechen mutmaßlich stattgefunden hat. Dann zieht sie sich um oder knöpft einen langen Regenmantel über das andere Ensemble. In Taunton steigt sie aus und kehrt mit dem nächsten Zuge nach Bristol zurück, wo ihr Komplice schon das Gepäck zum Gepäckraum geschafft hat. Er händigt ihr den Gepäckschein aus und fährt selber nach London. Sie spielt ihre Rolle zu Ende, wartet auf dem Bahnsteig die Züge ab, sucht sich ein Nachtquartier im Hotel und kehrt morgens nach London zurück, genau, wie sie es erzählt hat.
Als Japp von seiner Expedition zurückkam, bestätigte er alle meine Schlüsse. Er erwähnte auch, daß ein wohlbekannter Dieb die Juwelen verkaufe. Ich wußte zuerst nicht, wer es war. Aber er mußte das Gegenteil von dem Manne sein, den Jane Mason beschrieben hatte. Als ich hörte, daß es Rot-Narky war, der stets mit Gracie Kidd arbeitete, na, da wußte ich, wo ich zu suchen hatte.«
»Und der Graf?«
»Je mehr ich darüber nachdachte, desto mehr war ich überzeugt, daß er nichts mit der Sache zu tun hatte. Mord ist ein großes Risiko, und der Graf trägt seine Haut nicht gern zu
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