Auch Santiago hatte einen Hund
Saint-Jean-Pied-de-Port am Fuße der Pyrenäen gehen sollte, aufzuarbeiten. So würde ich Zeit und Muße haben, die 14 Jahre mit ihm noch einmal Revue passieren zu lassen und mich auf diese Weise gebührend von ihm zu verabschieden. Ein weiterer Beweggrund für diese Pilgerreise ergab sich daraus, dass kurz nach seinem Tod mein neues Buch „Auf dem Jakobsweg durch die Bretagne“ erschienen war, in dem ich eine der Hauptrouten der Jakobspilger beschreibe; sie mündet in Poitiers in die Via Turonensis, welche von Paris her führt. Zum Abschluss der immerhin mehr als drei Jahre dauernden Forschungsarbeit wollte ich diesen Weg nun gemäß einer persönlichen Tradition noch einmal in seiner Gesamtheit als Pilger begehen, wollte als erster Benützer meines eigenen Buches also eine Art Erstbegehung unternehmen. Das vorliegende Buch soll beides sein: Bericht von dieser Pilgerreise und Gedenken an die gemeinsame Zeit mit meinem Hund Ajiz.
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MITTWOCH, 23. JUNI
LANLEFF - LA BRAYETTE
Meine Gebete wurden erhört! Nach einer immer wieder durch Kälte, Wind und die Härte meines Lagers unterbrochenen Nacht weckt mich die Sonne. Schlagartig verbessert sich meine Laune und ich verspüre etwas von der Euphorie, die ich gestern so vermisst habe. Es ist zwar für die Jahreszeit noch recht kalt, aber mit dem heißen Tee (gelobt sei mein kleiner Campingkocher!) komme ich rasch auf Betriebstemperatur und starte in meinen zweiten Pilgertag. Er ist durchwachsen, denn die Sonne will doch nicht so recht, wechselt sich mit dem Regen und dem kalten Wind ab. Die Euphorie des Morgens hält nicht lange an, aber die Stimmung bleibt trotz Müdigkeit - ich spüre halt doch mein höheres Alter, und natürlich auch mein höheres Gewicht - weit besser als gestern. Selbst die überfallsartig hereinbrechenden Regenschauer, die meine Mittagspause in NOTRE DAME DE L’ISLE abkürzen und eine ersehnte Siesta überhaupt verhindern, tun dem keinen Abbruch. Pilgeralltag eben!
Der Nachmittag versöhnt mich dann mit aller bisher erlittenen Unbill, ich erlebe die ersten dieser zauberhaften Begegnungen, die für mich das Pilgern in Europa so schön und unvergesslich machen, im kleinen Dorf BRINGOLO. Gerade schleppe ich mich müden Schrittes auf einer kleinen Steigung durchs Dorf - die Nachmittagssonne brennt mir ziemlich heiß auf den Hut, denn wenn sie sich zu scheinen entschließt, dann kräftig als ich aus einem Haus am Straßenrand einen freundlichen Gruß höre. Es sind ein älterer Herr und seine erwachsene Tochter (wie ich später erfahre), die mich als Jakobspilger erkannt haben und mir eine Erfrischung anbieten, als ich ebenso freundlich zurückgrüße. Kurz darauf sitze ich in ihrer gemütlichen Küche und genieße die äußerst willkommene Pause bei Menschen, von deren Existenz ich kurz vorher noch gar nichts gewusst hatte. Dem erfrischenden Glas Wasser folgen Kaffee und Schokoladekuchen. Zum ersten Mal seit meinem Aufbruch erfreue ich mich von Herzen meines Pilgerlebens. Die verlorene Siesta wird mehr als wettgemacht, denn ich fühle mich rundherum wohl, das Gespräch mit meinen Gastgebern ist so angeregt und die Stimmung so vertraut, dass ich lange sitzen bleibe. Da ich aber sowohl ein Tages- als auch ein Pilgerziel habe, muss es dann doch sein und ich breche nach fast zwei Stunden, an Leib und Seele gestärkt, wieder auf. Auch das ist Pilgern: eine Weile bleiben, aber dann doch weiterziehen. Der Abschied von diesen Menschen, die mir in so kurzer Zeit so nahe gekommen sind, ist herzlich, fast wie unter alten Freunden.
Während der „Frühnachmittags-Kaffeepause“ hat sich - zumindest für heute - die Sonne endgültig durchgesetzt und ich komme bei prächtigem Wetter nach CHÂTELAUDREN. Ohne mich aufzuhalten durchquere ich das mittelalterliche Städtchen und behalte für die etwa eineinhalb Stunden bis zum Tagesziel meinen flotten Gehrhythmus bei. Die Begegnung hat mir viel Kraft gegeben, die Sonne ebenso (was täten wir ohne sie?), aber auch das Ziel der heutigen Etappe trägt zu meiner guten Stimmung bei. Denn es erwarten mich am Abend in LA BRAYETTE Jean-Yves und Yolande, die ich im Zuge meiner Recherchen kennen gelernt habe und an deren Engagement für den bretonischen Jakobsweg ich wahrscheinlich nicht unbeteiligt bin. Wir haben uns 2001 zum ersten Mal getroffen, als ich vor der Ruine einer Kapelle neben ihrem Haus stand und mir überlegte, ob diese Kapelle etwas mit dem Jakobsweg zu tun haben könnte. Als dann Jean-Yves, der vom
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