Auch sonntags Sprechstunde
Sie sah mich fragend an. »Können Sie das verstehen?« Ihre Klage über Victor schien kein Ende zu nehmen. Sie setzte sich mir gegenüber und beugte sich vor. »Wenn Sie einen Mann von Victors Typ sehen: vornehm, soigniert, überbetulich mit seiner Ehefrau, niemals einen Geburtstag oder ein Jubiläum vergessend, ein Kavalier vom Scheitel bis zur Sohle, spendabel und immer am Telefon, wenn er verreist ist - dann können Sie ganz sicher sein, daß er nebenbei noch eine Freundin hat.« Sie drückte die Zigarette aus, die sie nur zu einem Viertel geraucht hatte. »Als ich Victor heiratete, wußte ich nichts, gar nichts. Eine glänzende Partie, dachte ich... « Sie winkte ab. »Bitte, Sie müssen kein Mitleid mit mir haben. Ich habe auch meine kleinen Freuden.«
Ihr Hauskleid hatte sich am Ausschnitt geteilt. Sie machte keine Anstalten, es wieder zu schließen. »Ich nehme an, daß Sie ein reizendes kleines Heim, eine reizende kleine Frau und reizende Kinder besitzen.« Sie sagte es in einer Weise, die eher ironisch klang. »Haben Sie außerhalb dieses Lebens irgendwelche Interessen? Dafür müssen Sie leben. Man ist nicht lange jung. Sie sehen gut aus, obwohl Sie heute nacht keinen Schlaf gehabt haben.«
Ihre Augen waren grün, und der Tag, der mit Visiten angefüllt vor mir lag, erschien mir plötzlich fade. Ungebeten aber schoß mir der Gedanke an ein Urteil des Disziplinargerichts in den Kopf, das kürzlich erst Schlagzeilen gemacht hatte und das die Beziehungen des Arztes zu dem Patienten betraf: »... selbst wenn sie ihn zu angeln sucht, darf er sie in keiner Weise ermutigen oder ihr etwa gar entgegenkommen... « Ich schüttelte mich und stand auf.
»Wenn Ihr Finger noch wehtut, rufen Sie mich an.«
»Sie können ganz sicher sein, daß ich es tun werde. Wir geben Ende des Monats eine Party. Ich werde Ihnen eine Einladung schicken.«
»Das ist nett von Ihnen.« Sylvia liebte Parties.
Sie zündete sich wieder eine Zigarette an. »Wir sprechen uns wieder.«
Ich fühlte mich nicht wohl. Vermutlich litt ich noch an den Nachwirkungen meiner Verletzung. Ich war gereizt, brachte den Patienten nur die nötigste Aufmerksamkeit entgegen und war ernstlich verstört. Morgen wird es besser sein, dachte ich, Robin kommt zurück, und am Tag darauf ist auch Herbert Trew wieder hier. Gegen sechs Uhr befiel mich die Vorstellung, daß mein Wartezimmer voller Patienten sein mußte. Ich eilte aufgeregt zu dem Haus einer Patientin, die kürzlich erst zugezogen war und sich bei mir angemeldet hatte. Sie litt an Schmerzen in der Brust, und ich befürchtete, einen längeren Besuch vor mir zu haben. Neue Patienten, die meine zielstrebigen Arbeitsmethoden noch nicht kannten, mußten erst nach und nach damit bekanntgemacht werden. Das benötigte, um einen guten Eindruck zu hinterlassen, eine gewisse Zeit.
Mrs. Langridge, die von ihren Nachbarn an mich empfohlen worden war, wohnte in einem Bungalow mit Steingärtchen und Gartenzwergen. Sie war eine korpulente, nicht mehr junge Frau, die mir höflich für mein rasches Kommen dankte und sagte, sie sei erst kürzlich von Middlesborough hergezogen, wo der Arzt, der sie zur Welt gebracht hatte, sie behandelte und wie leid es ihr tat, daß sie wegziehen mußte.
Ein Gaskamin brannte gemütlich im Schlafzimmer mit den Chintzvorhängen, ich stand davor, das Stethoskop auf dem Rücken, um es anzuwärmen, während Mrs. Langridge mir ihre Krankengeschichte erzählte.
Sie war gerade bei »und der Internist, der meine Röntgenaufnahme sah, sagte: >Mrs. Langridge, das sind die interessantesten Röntgenaufnahmen, die ich jemals gesehen habe<«, als ein scheußlicher Brandgeruch in meine Nase stieg.
»Entschuldigen Sie, Mrs. Langridge«, sagte ich, »wenn ich Sie unterbreche, aber haben Sie vielleicht etwas auf Ihrem Küchenofen stehen? Ich rieche etwas Verbranntes.«
»Nein, Herr Doktor«, sagte sie. »Auf dem Ofen steht nichts.« Sie schnüffelte. »Aber ich bemerke ebenfalls Brandgeruch.«
Ich drehte mich zum Kamin um und sah mein Stethoskop, mein neues Stethoskop, das ich so fürsorglich für Mrs. Langridges Brust hatte anwärmen wollen, geschwärzt und leicht glimmend in den Flammen des Gaskamins liegen.
Ich sah sie an, und sie sah mich an.
»Nur nicht aufregen, Herr Doktor«, sagte sie, mich von der Seite anblickend. »Ich nehme für meine Brustschmerzen sowieso immer die gelben Kapseln, die mir mein früherer Arzt verordnet hat.«
Ich ging traurig davon, wohl wissend, daß es mir
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