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Auch sonntags Sprechstunde

Auch sonntags Sprechstunde

Titel: Auch sonntags Sprechstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Tibber
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niemals — was immer ich auch versuchen würde - gelingen würde, dem Arzt in Middlesborough den Rang abzulaufen.
    Die Sprechstunde sollte in der nächsten halben Stunde beginnen. Ich versuchte mich durch den Verkehr zu schlängeln, raste um die Kurven, bis ich schließlich in die stilleren Straßen meines Bezirks gelangte. Ich befand mich auf einer breiten Straße, die mit Nußbäumen bestanden war, als ein kleiner Junge vor mir auf dem Fahrrad, eine Einkaufstasche auf der Lenkstange balancierend, die Straße entlangfuhr, schwankte und mitten auf der Straße vom Fahrrad fiel.
    Glücklicherweise war außer meinem Wagen kein anderer auf der Straße. Der Junge lag unbeweglich da, das Fahrrad mit seinen noch drehenden Rädern auf ihm. Ich hielt an, um nachzusehen, ob er sich etwa verletzt hatte. Seine Augen waren geöffnet, und er sah ängstlich aus. Er mußte neun oder zehn Jahre alt sein. »Bist du in Ordnung, Kleiner?« fragte ich. »Du mußt besser aufpassen, wohin du fährst.«
    Ich hob das Fahrrad hoch, und zu meiner Überraschung war plötzlich eine Menschenmenge da, Hausfrauen waren aus den Häusern gelaufen, Geschäftsleute, die sich auf dem Heimweg befanden, die Zeitung unter dem Arm, hatten sich um uns beide geschart.
    »Sträflicher Leichtsinn«, sagte eine Frau, die nach gebackenem Fisch roch und einen Turban trug. »Kleine Kinder einfach umzufahren!«
    »In Eile, bloß um nach Hause zu kommen, zu dem verdammten Fernsehen!«
    »Ich habe gesehen, daß Sie die Geschwindigkeitsgrenze überschritten haben.«
    »Den Führerschein sollte man Ihnen entziehen, Mann!«
    Mir wurde plötzlich klar, daß ich gemeint war.
    »Ich habe den Jungen nicht umgefahren«, sagte ich ruhig.
    Sie betrachteten meinen Wagen, der keine fünf Meter entfernt mitten auf der Straße stand.
    »Da hat nicht viel gefehlt.«
    »Aber der Kleine ist doch verletzt!«
    »Glücklicherweise nicht schlimm.«
    »Ich hab’ mal einen unter ’nem Bus gesehen. Schrecklich, sage ich Ihnen!«
    Ich stellte das Fahrrad »gegen die Bordkante und kniete wieder neben dem Jungen nieder.
    »Rühren Sie ihn ja nicht an!«
    »Der Unfallwagen wird gleich hier sein, ich habe angerufen.«
    Ich nahm keine Notiz davon; der Junge war zwar erschrocken, schien aber unverletzt zu sein. Ich ergriff seine Hände: »Nun versuch mal aufzustehen.«
    »Hände weg von dem Jungen!«
    »Sie rühren ihn nicht an, bis die Polizei hier ist. Vielleicht hat er irgendwelche Verletzungen.«
    »So jemand sollte nicht Auto fahren dürfen.«
    Vierzig Minuten zu spät war es für die Sprechstunde. Ich klopfte dem Jungen den Staub ab.
    »Hat dich vom Fahrrad gestoßen, der Kerl, wie?«
    Der Junge starrte die Sprecherin an, eine dicke Gestalt in Pantoffeln, mit blauen Pompons auf den Zehenspitzen.
    Da erschien ein Polizeiwagen.
    Ich machte Anstalten, an meinen Wagen zurückzugehen. Ärgerliche Hände hielten mich am Jackett fest.
    »Weglaufen! Das hat noch gefehlt! Offizier, erst hat er diesen kleinen Burschen umgefahren, und nun will er sich auch noch aus dem Staube machen!«
    Der Polizist zog das unvermeidliche Notizbuch heraus. »Entschuldigen Sie, wenn ich Sie noch einen Moment aufhalten muß, Sir«, sagte er höflich.
    »Hören Sie«, erwiderte ich, »ich bin Arzt und... «
    »Nun befördert er sich auch noch zum Arzt... «
    »Einen Augenblick, meine Dame«, sagte der Polizist.
    »So ein verdammter Kerl!«
    »Die Leute hier behaupten, Sie hätten den Jungen angefahren und vom Fahrrad gestoßen.«
    Ich sagte nichts.
    »Stimmt das?«
    Ich nickte dem kleinen Jungen aufmunternd zu, der verschüchtert inmitten der Menschen stand. »Ich schlage vor, Sie fragen den Jungen selbst.«
    »Nun sag mir mal, junger Mann«, sagte der Polizist, »hat dieser Herr dich mit seinem Auto vom Fahrrad gestoßen?«
    Die Augen des Jungen wurden groß.
    »Ich hab’s Ihnen ja gleich gesagt«, triumphierte der Turban.
    »Meine Dame, bitte, der Herr ist in Eile!«
    »Das sind wir alle.«
    »Also, hat er dich vom Rad gestoßen?«
    Der Junge betrachtete besorgt seine zerkratzten Knie, spuckte in ein schmutziges Taschentuch und rieb sie ab.
    »Ich bin freihändig gefahren, Sir, und habe das Pedal nicht erreicht. Bitte, Sir, kann ich jetzt gehen?«
    »Und dabei hat dich dieser Herr, vor dem du fuhrst, vielleicht vom Rad gestoßen?«
    »Nein, keine Rede davon. Er hat mich nur aufgehoben. Kann ich jetzt gehen, bitte, meine Mutter wartet auf den Kohl.«
    »Du bist nicht verletzt?«
    »Nein. Meine Mutter wird sehr böse

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