Auch wir sind Deutschland: Ohne uns geht nicht. Ohne euch auch nicht. (German Edition)
manche.
Schließlich wollen deine Eltern, dass du heiratest, dass du plötzlich selbst ein Familienoberhaupt wirst, aber wie soll das gehen, wenn du in 25 Jahren nie gelernt hast, selbstständig eine Entscheidung zu treffen? Wie willst du deine Frau respektieren, Kinder in die Welt setzen und aus denen vernünftige Menschen machen, wenn du selbst immer nur der drittjüngste Bruder warst und gemacht hast, was andere gesagt haben, oder eben der älteste, der alle anderen nach seiner Pfeife tanzen lassen konnte. Das ist sehr, sehr gefährlich.
Natürlich habe ich mir oft gewünscht, einen älteren Bruder, eine Schwester, eine große Familie zu haben, und ich genieße das auch, wenn mich meine Freunde mit ihren riesigen Familien besuchen und bei mir abhängen, aber ich bin doch ganz froh, dass es für mich nicht so gekommen ist. Respekt hin oder her und ich habe grundsätzlich Respekt vor anderen Menschen und ich respektiere auch die Familien und ihre Struktur, aber dieser blinde Gehorsam, jemandem wie die Lemminge hinterherzulaufen, ohne darüber nachzudenken – da habe ich meine Zweifel, dass da gesunde, starke, selbstbewusste und verantwortungsvolle Menschen daraus entstehen.
An dieser Stelle müsste meiner Meinung nach tatsächlich die Gesellschaft eingreifen, die Schule. Die Schule könnte sicherlich eine Menge tun, aber wer ganz konkret sollte das tun? Die Forderung, die Gesellschaft müsse hier handeln, die Schule müsse das regeln, ist ja schön und gut, aber aus meinen Beobachtungen und meiner eigenen Erfahrung heraus würde ich sagen, dass die Lehrkräfte selbst überfordert sind, das würde den Rahmen sprengen. Eigentlich kann man das von den Lehrern doch gar nicht erwarten, denn sie müssen in erster Linie Lerninhalte vermitteln und den Lehrplan umsetzen, der sich alle paar Jahre ändert, weil am Schreibtisch immer neue Reformen beschlossen werden. Zusätzlich wird Sozialarbeit geleistet und dann sollen sie aus den durchschnittlich 25 Kindern pro Klasse auch noch vernünftige Menschen machen mit allem, was dazugehört auf zwischenmenschlicher, sozialer und ethischer Ebene. Dann noch ihr eigenes Leben leben und ihre privaten Probleme lösen. Das ist viel zu viel. So, wie das Schulsystem derzeit gestaltet und ausgestattet ist, kann das kein Mensch bewerkstelligen, obwohl es theoretisch vielleicht machbar und sicher auch wünschenswert wäre. Ich habe ja selbst gemerkt, wie viel positiven Einfluss gute Lehrer haben können. Ich hatte immer ein, zwei Lehrer, mit denen ich super klargekommen bin, die so ein bestimmter Typ Mensch waren, der mich angesprochen hat, und die mir sehr viel beibringen konnten. Mein Chemielehrer, Herr Helmert, war zum Beispiel so ein Typ. Den habe ich geliebt über alles und es hat mir auch richtig Spaß gemacht bei ihm. Mit dem habe ich mich auf dem Pausenhof, wenn er Aufsicht hatte, auch mal über andere Sachen unterhalten. Mit dem konnte man reden, nicht nur über chemische Reaktionen, sondern auch über das Leben, und das waren durchaus pädagogische Gespräche. Der war cool, obwohl er ein richtiger Öko war mit seinem Bart, seiner Brille, seinen Birkenstockschuhen und seinem Jutebeutel. Herr Helmert hat mich ein wenig an Professor Lesch erinnert, der beim Bayerischen Rundfunk die Sendung Alpha Centauri moderiert. Der ist Physikprofessor und erklärt physikalische Phänomene. Ich habe sämtliche DVDs von ihm und genau so war mein Chemielehrer. Der totale Streber, aber trotzdem eine richtig coole Socke. Die anderen Lehrer fand ich voll scheiße. Wie sie sich mit diesen ganzen Nebensächlichkeiten beschäftigt haben und sich an Kleinigkeiten aufgerieben haben. Am schlimmsten waren aber der Tonfall und die Art, wie sie mit einem gesprochen haben: »Nee, Anis, das geht so nicht und das ist jetzt echt nicht okay. Kann das sein, dass du deine Hausaufgaben gerade eben im Bus geschrieben hast? Das ist ja alles so verwackelt.« Darauf kann man doch nur antworten: »Was los, Mann? Ist doch okay. Warum nervst du denn jetzt so?« Der Fokus bei den meisten Pädagogen lag auf etwas ganz anderem. Natürlich hat auch unser Chemielehrer Arbeiten schreiben lassen und Noten verteilt, das war ja kein LSD-Unterricht, in dem wir die ganze Zeit Drogen gebraut haben, aber bei ihm merkte man, dass er uns beibringen wollte, selbstständig zu denken. Er hat bewusst darauf verzichtet, uns Hausaufgaben zu geben, bei denen wir einfach nur stupide abschreiben oder auswendig lernen sollten. Bei ihm stand immer
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