Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
Weltkrieg und bis heute. Der Baum war erst seit zehn Jahren »tot« und Lene trauerte um dieses Lebewesen, das die Menschen so unendlich lange begleitet hatte. Ein Hauch von etwas, ein so lange lebender Zeitzeuge unvorstellbaren Ausmaßes. Es war eine Trauer um Vergänglichkeit, um Zeit. Um die Geschichte der Menschen, ihre Verletzlichkeit, das Auftauchen und Verschwinden von Kulturen und Idealen. Diese Baumscheibe machte jedes Erleben relativ. Ein indianischer Künstler hatte eine Holzskulptur aus dem Baumstamm geschnitzt. Einen Riesen nannte er ihn, eine Art Urmensch, Kraft verkörpernd und zugleich ein Sinnbild für Fruchtbarkeit. Geschlechtslos. Ewig gültig.
Sophie ließ ihre Hände über die Form der Figur gleiten. Es war, als ob sie das Wesen mit ihren Fingern aufnahm, indem sie es berührte. Das Wesen des Baumes oder der Skulptur? Aber letztlich war beides eins.
» 3400 Jahre sind eine lange Zeit – irgendwie unvorstellbar, nicht? Aber wir sind Teil davon, von allem«, sagte Sophie plötzlich und kehrte damit die Melancholie in Freude um.
Sie stiegen wieder in ihr Auto und fuhren hinauf in die Berge. Ein Bergbach überschlug sich in glitzernden Wellen, ständig breiter werdend. Die Sonne wurde immer wärmer. Und die Berge strahlten auf in ihrem Licht, das Grün besonders grün, das graue Bergmassiv lichtgrau, der Himmel tiefblau. Die Intensität der Farben ließ Lene sich so leicht fühlen. Sie dachte an Mike und eine Welle aus Glück und Freude überflutete sie.
Die Straß e wand sich in Serpentinen nach oben, hinter jeder Kurve ein neuer Blick, neue Eindrücke. Lene fühlte sich immer gelöster, sie und Sophie wechselten sich ab in Glücksausrufen über so viel Schönheit. Plötzlich war da Schnee – für Lene, die gerade aus den österreichischen Alpen kam, nichts Ungewöhnliches. Aber dann sah sie die Amerikaner in ihren Shorts und Sommerschuhen, wie sie den Schnee ihren Kindern zeigten, vorsichtig und lachend darauf zu gehen versuchten. Natürlich - Schnee in Kalifornien war ungewöhnlich, zumeist nur oben in den Bergen möglich. Viele dieser Besucher, besonders der Kinder, hatten noch nie Schnee gesehen.
Wieder ein Mammutbaum, hö her aufragend. Alle anderen in respektvoller Ferne – er dominierte die Lichtung. Dieser Baum hatte einen passenden Namen – General Sherman.
» Das größte - im Sinne von largest - lebende Wesen der Welt , 2500 – 3000 Jahre alt, 83 m hoch«, stand auf der Tafel – darunter eine weitere Menge an Superlativen. Aber das unmittelbare Fühlen, das sie vor dem toten Riesen im Tal erfüllt hatte, stellte sich nicht wieder ein.
» Weiter oben soll es noch Bäume geben, die 4700 Jahre alt sind.« Zeitalter der Pyramiden.
Als sie nach unten fuhren, kreuzte plö tzlich ein Kojote ihre Fahrbahn, wie ein schmutziger Hund blieb er mitten auf der Fahrbahn stehen und sah zu ihnen hin. Ein intensiver Blick, dann lief er fort.
» Wahnsinnig schön«, murmelte Sophie ehrfürchtig.
Lene fü hlte sich wie mit Champagner im Blut. So befreit.
Als Sophie und sie nach einer Kaffeepause wieder auf die Straße nach San Francisco kamen, waren sie noch erfüllt von ihrem Erleben in dieser Landschaft.
» Dass man in so kurzer Zeit so viel erfahren und fühlen kann, ist ein besonderes Geschenk an uns Menschen, denke ich manchmal«, sagte Lene. »Und das gilt für alle Gefühle – Glück und vielleicht sogar den Schmerz. Alles, was uns intensiv fühlen lässt«, setzte sie hinzu. Damit kehrten ihre Gedanken zu den letzten Tagen und den heutigen Erkenntnissen zurück. Wie musste dieser Druck, dieser Zwiespalt auf Fred gewirkt haben, als er den Brief gelesen hatte? Wie wäre seine Reaktion gewesen? Zu Iris, als Vertrauter – obwohl sie erst seit zwei Monaten zusammen waren? War sie schon vertraut genug? Oder hat er sich nur abgelenkt mit ihr und am nächsten Tag dann den Druck dieses Briefes wieder so stark gefühlt, dass er zu Joanne und Marc musste – und hat dann – verkatert wie er war - unter Trauer, Verzweiflung, Liebe, Eifersucht zur Pistole gegriffen?
Aber wer hat dann am nä chsten Morgen bei Sam den Telefonanruf gemacht? Hatte er es Iris gebeichtet und sie hatte angerufen? Warum nur so ein hässliches Gespräch? Und – dabei fiel ihr ein, dass sie Sam ja noch nach der Stimme am Telefon fragen wollte. Sophie hielt das für unnötig.
» Dann wäre doch Iris nie mit zur Beerdigung gefahren! Das wäre doch zu riskant gewesen.«
Da hatte sie R echt. Trotzdem wählte sie die
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