Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
eine andere Seite von San Francisco kennenlernen als die bisher – und gehen dann erst einmal zur Wohnung von Joanne und Marc.« Jetzt benutzte auch er ihre Vornamen, holte sie aus der Unpersönlichkeit. »Oder wir gehen zu Vito’s Pizzeria und sehen, was wir dort erfahren. Andererseits können wir auch heute Abend bei Vito’s essen und jetzt die Wohnung noch einmal durchsuchen. Ich würde dann für zwei Uhr die Spurensicherung anfordern.«
» Ich finde das auch besser. Dann haben wir schon ein klareres Bild und wissen mehr, worauf wir achten müssen.«
» Gut, dann Fisherman’s Wharf.«
Schwungvoll manö vrierte er den Wagen aus dem Hof und fuhr auf der Uferstraße zurück.
» Die Golden Gate liegt genau in der anderen Richtung. Aber die zeige ich Ihnen später auch noch – ganz sicher.«
Lene freute sich plö tzlich über all die Normalität in dieser Beziehung, das Selbstverständliche. Sie sah wieder auf seine sehnigen, kraftvollen Hände am Steuer und fühlte sich wohl in seiner Nähe. Dann fiel ihr Sophie ein.
» Ich muss meine Tochter anrufen. Oder ich schreibe schnell eine SMS. Sie sieht sich heute in den Museen der Stadt um, rechnet sicher auch damit, bis zum Nachmittag allein zu sein. Aber ich finde es netter …«
Kurze Zeit spä ter kam eine SMS zurück. »Alles okay, Lene. Viel Erfolg!!! Sag Bescheid, wann wir uns treffen können. Kuss«
Auch hier die Normalitä t. Lene hatte immer noch Probleme die Bilder und die Atmosphäre aus der Pathologie loszulassen. Es war einfach zu wenig, was vom Menschen übrig blieb. Was war es, was uns so verunsichert, fragte sie sich. Es ist doch egal, ob man die Leere der körperlichen Hülle auf dem Obduktionstisch oder am Grab, während man auf den Sarg blickt, auf den die Erde herabfällt, begreift. Farben, Licht, Sonne. Und die Stimme ihrer Tochter am Telefon. Alles ist gut. Trost. Wie wir Kinder trösten. Seine Hände. Auch Trost.
Mike fuhr am Wasser entlang, das in der Sonne glitzerte. Wie vor der Obduktion. Zwei junge Körper, zwei Leben, zerschnitten, seziert.
» Ich konnte nicht die ganze Zeit zuhören. Gab es außer der Zeitdifferenz noch etwas Wichtiges?«
» Nein, beide sind wohl dort getötet worden, wo sie gefunden worden sind. Keine fremden Haare. Gar nichts. Bei Marc Fasern – wohl vom Bettüberwurf. Wir sehen es uns nachher an. Jetzt machen wir erst einmal eine Pause. Es tut mir so leid, dass ich Sie dorthin mitgenommen habe, aber es war sicher besser für Sie, dabei zu sein. Wenn auch hart.«
Fisherman ’s Wharf stellte sich als Touristenattraktion heraus. Restaurants, Imbissbuden, an der Eingangsecke ein Hardrock Café . Immer, wenn sie in einer großen Stadt in der Welt auf eines stieß, dachte sie an den früheren Besitzer. Isaac Tigrett, den sie dann auch noch persönlich getroffen hatte. Lene mochte und bewunderte diesen Mann. Sie hatte seine Geschichte in Indien gehört. Er hatte die ganze Kette weltweit aufgebaut und eines Tages einfach alles verkauft. Mehr als die Hälfte des erzielten Kaufpreises hat er seinem spirituellen Lehrer in Südindien gegeben, der damit das zweitgrößte Herztransplantationszentrum, in dem auch arme Patienten umsonst behandelt werden, finanzierte. Es wurde damals in nur zehn Monaten gebaut und mit einer Herztransplantation an einem armen indischen Dorfjungen eingeweiht. Siebzehn war er gewesen.
Mike fü hrte sie durch die Menge der knipsenden Besucher und schließlich eine breite Holztreppe nach oben. Plötzlich hörte Lene seltsame Tierlaute und blieb fasziniert und verwirrt stehen. Mike lächelte geheimnisvoll und steuerte sie um eine Ecke. Der Anblick, der sich ihnen bot, war überwältigend. Mindestens hundert Seelöwen räkelten sich auf breiten Holzplanken in einem sehr geräumigen Wasserbecken in der Sonne.
» Sie sind doch nicht gefangen?«, fragte Lene verwirrt.
» Nein, sie sind freiwillige ›Einwohner‹ San Franciscos. Die Marine hat ihnen dies Überwinterungsbecken zur Verfügung gestellt und füttert sie hier durch. Wenn es dann Frühling wird, nicht kalendermäßig, sondern Seelöwen-Time, ziehen sie zur Paarung nach Norden. Die Weibchen bleiben dann dort um die Jungen zu bekommen und aufzuziehen, die Männchen aber kommen inzwischen einfach zurück und lassen es sich hier gut gehen, wie Sie sehen.«
Das Glü cksgefühl dieser vor sich hindösenden Seelöwenmänner, die gerade mal die Augen öffneten, wenn ein halbstarker Artgenosse auch auf das Brett wollte oder zur Abkühlung ins
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