Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
nicht mit der Geheimhaltung von so etwas Unerhörtem belasten. Das wäre für sie zu schwer gewesen. Ach, wie würde ihre Schwester weinen. Aber sie käme vielleicht ja nach. Amerika war ihre große Sehnsucht. Getröstet durch diesen Gedanken trug sie leise den ersten Koffer nach unten, bemüht die Stufen nicht knarren zu lassen. Gegen das Rascheln ihres Kleides konnte sie nichts machen, aber sie hatte den Wintermantel darüber gezogen. Und das im Juli, aber wie sollte sie ihn denn sonst mitnehmen. Einen Mantel brauchte sie doch! Dann der zweite Koffer – leise in die große Stube.
Sie ö ffnete das Fenster, hob einen hinaus. Margarethe war froh, als der Koffer auf dem Boden ankam und stehen blieb. Dann den zweiten. Den Handtaschenbeutel hängte sie sich um den Hals. Sie sah noch einmal zurück. Auf Wiedersehen, du liebes Haus, ich komme wieder, wenn auch dann zu Besuch. Versprochen. Sie betrachtete noch einmal den Balken in der Decke des Zimmers, den großen Ausziehtisch in der Mitte mit den schönen Stühlen darum, an der Wand gegenüber die Kommode, in der ihre Mutter ihre Schätze hütete, und die Bilder an den Wänden. Sie seufzte unbewusst, als sie das Sofa sah, auf dem sie immer gelesen hatte, und daneben den Kachelofen. Ihre glücklichsten und gemütlichsten Erinnerungen. Hinter der Tür stand ein Vertiko. Sie ging hinüber und nahm eine kleine Tasse mit Rosenmuster aus sehr feinem Porzellan heraus, stopfte sie in ihren Beutel. Etwas von zu Hause würde sie trösten, wenn sie Heimweh haben würde, dachte sie. Vorsichtig kletterte sie nun hinaus und atmete auf, als sie den Boden unter ihren Stiefeletten fühlte. Ein letzter Blick zurück und entschlossen ergriff sie ihre Koffer und ging los. Ohne sich umzudrehen, lief sie durch das noch dunkle Gaustadt. Endlich ging der Ort in Bamberg über. Die Brücke, Klein Venedig, ihre alte Schule. Oft musste sie die Koffer absetzen. Dann setzte langsam die Dämmerung ein. Die alten Häuser, der Stolz der Stadt, schienen mit ihr zu reden. Hoffentlich machen sie mir Mut, dachte sie energisch. Alles andere kann ich jetzt nicht brauchen. Ich komme ja auf Besuch wieder, beruhigte sie sich wieder selbst. Endlich, nach fast drei Stunden, als ihre Hände schon taub waren und die Koffer ihr Gewicht verdreifacht zu haben schienen, kam sie am Bahnhof an. Der Zug sollte in einer halben Stunde abfahren – erst nach Nürnberg, dann nach Hamburg und schließlich nach Rotterdam. Aufatmend setzte sie sich auf die Bank, legte den Mantel über die Koffer. Geschafft.
Frank, dachte sie.
Kapitel 19
Mittwoch, 6. April
Als Lene und Sophie am nä chsten Morgen ein Frühstückslokal suchten, fielen ihnen wieder die vielen verlorenen Gestalten auf der Straße auf. Es berührte sie, dass die Menschen oft einfach vor sich hin brabbelten, mit sich selbst sprachen oder auch nur Laute ausstießen. Sophie hatte gerade gelesen, dass der junge und sozial engagierte Bürgermeister von San Francisco leer stehende, öffentliche Gebäude freigegeben hatte als Unterkunft für die zahlreichen Obdachlosen. Ein Tropfen auf den heißen Stein. »Die fehlende soziale Absicherung ist schrecklich zu merken, Lene, findest du auch? Dann beim Frühstück, bei dem sie den Kaffee Midsize von mehr als einem halben Liter genossen und ansonsten mit dem Essen kämpften, da es ihnen wieder nicht gelungen war etwas Nicht-Matschiges – in der Mikrowelle Gewärmtes – oder nicht-süße Bagels zu finden, kamen sie noch einmal auf Margarethe zurück, die dann endgültig zu Marge geworden war.
» Weißt du, das scheint immer so konsequent, dass sie einfach zurückgefahren ist. Aber was für ein Schritt das war, das habe ich auch erst gestern Abend verstanden, gestand Lene. »Als Frau musste sie ja wirklich von vorn anfangen. Und dann sind sie und Frank zwei Jahre später, also 1913, zu einer Zeit nach Kalifornien gezogen, wo hier doch noch alles im Entstehen war. 1897 war ja erst General Custers letzte große Schlacht gegen die Indianer gewesen, die Battle of Little Big Horn lag noch gar nicht so lange zurück, mal gerade sechzehn Jahre, und Bakersfield war sicher noch eine Kleinstadt, die einerseits das Eingangstor zur Sierra Nevada war und andererseits beinahe schon zur Mojave Wüste gehörte. Ein wirkliches Aufbauprogramm für den jungen Arzt und seine deutsche Frau.«
» Und ihre Eltern? Sind Lona und Lorenz je zu ihr gefahren?«
» Nein. Lona ist 1922 gestorben. Ihre Eltern hatten sich aber schon nach zwei
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