Auf all deinen Wegen - Lene Beckers erster Fall (Lene Becker ermittelt) (German Edition)
dass ich Skorpion bin? Behandelst du mich jetzt auch anders?« Der Mutwillen blitzte aus seinen Augen. Lene lachte.
» Natürlich, jetzt weiß ich ja alles über dich. Nein, aber ich weiß jetzt, dass wir uns sicher gut verstehen.«
Seine Stimme wurde weich. »Das habe ich schon vorher gewusst«, kam es samtweich von seiner Seite.
Lene schaute verwirrt zum Fenster hinaus.
»Wir sind da. Im zweiten Stock ist es.«
Bill wartete schon vor der Haustü r. Er war mit seinem Auto gekommen, da er anschließend noch zu Iris’ Mutter fahren wollte. Sie betraten ein sehr schlichtes Haus, das mit Joannes und Marcs Wohnhaus nicht zu vergleichen war. Es sah alles vernachlässigt aus, der lange Flur, von dem die braunen Appartementeingangstüren abgingen, düster und trist. Als sie aber die Wohnungstür aufschlossen, sah man, dass Fred aus seinem Apartment etwas gemacht hatte, das persönlich und freundlich wirkte. Von dem hellgrün gestrichenen Flur gingen vier Türen ab. Eine der Türen stand offen, wohl das Wohnzimmer. Während Bill und Mike die anderen Türen zu Bad und Küche öffneten, sah sie sich im Zimmer um. Eine Couch, die zum Bett umfunktioniert werden konnte, davor ein Tisch – beides von Ikea, erkannte Lene. Gab es das hier auch? Dann ein Regal mit Büchern, ein großer Schrank, ein Phonotisch mit Fernseher und billiger Musikanlage. In einer Ecke ein Schreibtisch mit Computer. Zwei Drucke von Feininger an der Wand, keine Pflanzen. Na ja, welcher Mann hatte schon Zimmerpflanzen. Aber alles in allem gemütlich. Ein bisschen unordentlich, auf dem Tisch lagen…
» Lene, kannst du mal kommen? Schau mal!« Mike rief nach ihr und als sie zu ihm kam, stand er in einem anderen Wohnzimmer, das aber wesentlich anders – altmodischer - gehalten war. Ein Bett in einer Ecke, ein kleines, etwas ausgesessenes Sofa, ein Tisch mit zwei Stühlen, ein kleiner Fernsehapparat und ein Schrank. Der Teppich wirkte schon abgetreten, trotzdem – es war alles liebevoll aufgeräumt und atmete Sauberkeit.
» Das Zimmer des Großvaters!« Lene war völlig überrascht. »Der Vater hatte doch eine andere Adresse, oder?«
Mike sah zu Bill. »Ja, ich wollte ihn morgen aufsuchen. Er wohnt in der 26th«, sagte der, ebenfalls verblüfft.
Mike schü ttelte den Kopf. »Verstehe einer diesen Fred. Da redet er unaufhörlich von seinem Großvater und Iris dann noch mal, aber keiner sagt, dass er bei Fred gewohnt hat. Wie alt war er noch?«
» Ich glaube dreiundachtzig, und er ist ja erst letzte Woche gestorben. Hier? Oder im Krankenhaus?« Lene war auch berührt. »Er hat seinem Großvater also die Fürsorge, die der in Freds Kindheit für ihn hatte, im Alter zurückgegeben. Das ist schon selten. Aber viel Geld für ein Altersheim hatte die Familie ja wohl nicht. Der Vater arbeitslos, seitdem er in den 50ern war, also hatte der bestimmt nur eine kleine Rente. Der Sohn unzufrieden mit dem Job bei der Autovermietung und Fred, der Enkel, studiert mit einem Stipendium. Leicht hatten die es sicher nicht.«
Gedankenverloren ö ffnete sie einen Pappordner, der auf dem Tisch lag. Martin Meister. Eine Schiffsfahrkarte von 1910 von Rotterdam nach New York. Geboren 1900 in – sie wurde ganz aufgeregt.
» Schau mal, da ist ein Martin Meister 1900 in Bamberg geboren! Wie seltsam! Das ist ganz in der Nähe von Nürnberg. Und – Meister und Masters – sie haben wohl nach der Einwanderung ihren Namen in Masters geändert. Dann ist Fred ja sogar von deutschen Einwanderern! Wie meine Tante, Joannes Großmutter, auch. Und dann noch beide aus derselben Stadt! Meine Urgroßeltern sind auch aus Bamberg. Das Leben geht schon manchmal eigene Wege. Kennt ihr hier auch den Ausdruck die Welt ist klein ? Man ist auf der anderen Seite der Welt und trifft plötzlich einen Bekannten.«
Mike war ebenfalls verblüfft. Auch wenn ihm Deutschland nicht allzu deutlich vor Augen stand, fand er es genauso eigenartig.
» Andererseits – hier in den USA mit den vielen Einwanderern, kommt so was dauernd vor. Na gut, nicht dauernd, aber häufiger als sonst wo.«
Trotzdem blä tterte Lene noch kurz durch den Ordner. Fotos von einem Paar, das steif in die Kamera sah. Im Stil der Jahrhundertwende – waren das Martins Eltern? Ein Klassenfoto, mindestens vierzig bis fünfzig Kinder. Schade, dass sie nicht wusste, wie der kleine Martin ausgesehen hatte. So konnte sie ihn aus der – sehr brav dreinblickenden – Kinderschar nicht heraussuchen, was sie sonst immer zu gern tat. Dann
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