Auf Amerika
Ich war doch kein Waisenkind. Vater, ich hasse dich!
Im Zug war mein Vater schweigsam. Beide schauten wir zum Fenster hinaus. Scharen von Menschen auf Kartoffelfeldern, die Ernte einholend, flogen vorbei. Dort der Zwiebelturm unserer Kirche, dann Wiesen, Wald, andere Dörfer mit ihren Kirchen. Dörfer, in denen ich noch nie gewesen war, deren Namen ich gar nicht kannte. Schon einmal waren wir mit diesem Zug diese Strecke gefahren. Da war meine Mutter dabei. Sie brachten mich ins Krankenhaus, um mir die Mandeln rausnehmen zu lassen. Damals war mein Vater lustig. Er machte Scherze, nannte die Namen aller Dörfer und sogar Namen von Menschen, die wir vom Zugfenster aus sahen. Ich bewunderte ihn dafür, dass er alle diese Leute kannte: Ach, da schau, da ist ja der Herr Doktor Freud. Da, der Herr Adenauer und der Herr Hindenburg auf Fahrrädern! Hallo, Herr May, was machen Sie denn hier in Radebeul!? Da erwischte ich meinen Vater, denn der Ort, in dem der Zug hielt und der bärtige Mann ausstieg, den mein Vater Herr May nannte, hieß Vötting, nicht Radebeul. Ich sah ja das Ortsschild. Du lügst, rief ich. Er gab es zu und lachte, und wir erfanden seltsame Namen für Orte und Menschen, so dass uns meine Mutter langsam für verrückt hielt und ich gar nicht mehr daran dachte, was mir bevorstand.
Damals war mein Vater ein lustiger und fröhlicher Vater gewesen. Jetzt war er stumm, hing seinen Gedanken nach, in denen sicher eine Menge Sorgen herumgeisterten.
Papa?
Du, Papa?
Herrgott ja, was ist denn?
Stirbt die Mama?
Aber nein.
Woher weißt du das denn?
Ich weiß es eben.
Und wenn sie aber doch stirbt?
Pass auf. Wenn du dort im Waisenhaus brav bist und nicht weinst und nicht Heimweh hast, dann stirbt die Mama auch nicht, das verspreche ich dir.
Brav war ich im Waisenhaus, aber ich weinte oft und hatte Heimweh. Nach dem Dorf, der Rosa, dem Lammerhof, dem Veit hatte ich Heimweh. Ich hatte viel Heimweh, fast immer hatte ich Heimweh, so viel Heimweh, dass meine Mutter oft hätte sterben müssen. Aber sie starb trotzdem nicht.
Den Duft der Wiesen und Ställe, den grenzenlosen Spielplatz des Dorfes, die Küche der Lammermutter, die Schule mit allen acht Klassen in einem Raum, den Veit, das alles tauschte ich nun gegen Kernseife, Bohnerwachs und Weihrauch, gegen Speisesaal, Schlafsaal, Klosterkirche und Klosterhof, gegen sechzig Knaben zwischen sechs und vierzehn Jahren und ein Dutzend Klosterschwestern.
Vollwaisen, Halbwaisen, ausgesetzte, verlassene, abgeschobene, vergessene Kinder wurden hier im Namen Gottes hinter verschlossenen Toren gehalten, wie man im Dorf nicht einmal das Vieh hielt. Das durfte sich wenigstens auf den Wiesen tummeln. Die Waisenkinder durften das nicht.
59
Fünf Uhr in der Frühe, jeden Tag, auch am Sonntag. Eine schrille Glocke zerreißt den Schlaf. Grelles Licht empfängt den Aufwachenden. Jetzt schnell aus dem Bett springen und davorstehen wie ein Soldat. Dem Jungen, der nicht dasteht, wenn die Schwester zur Bettnässerkontrolle kommt, wird die Bettdecke weggerissen, und er hat sich nach dem Duschen mit den Bettnässern zusammen bei einer anderen Schwester zu melden. Die Bettnässer, das sind immer ein paar unter den sechzig Kindern zwischen sechs und vierzehn Jahren, müssen ihr Laken abziehen und werden damit abgeführt. Die anderen haben ihr Bett zu machen. Das wird von mehreren Schwestern kontrolliert. Dann ab zum Duschen, das zwar Duschen heißt, aber doch eher dem Reinigen der Tiere im Lammerhof ähnelt, wenn der Sepp die Kühe abspritzt, ihnen die Scheiße vom Hintern und den Beinen entfernt.
Nebeneinander müssen wir uns nackt vor einer Fliesenwand aufstellen und werden von Schwestern mit einem Wasserschlauch von oben bis unten mit kaltem Wasser abgespritzt. Dass sie gerne mit dem harten Strahl da hinspritzen, wo es weh tut, entgeht mir nicht. Eine Schwester kichert sogar dabei. Der Sepp passt bei den Kühen auf, dass er mit dem Strahl nicht an die Euter der Kühe kommt, weil ihnen das weh tut, wie er sagt. Aus einem Nebenraum hören wir Schreie. Dort werden die Bettnässer und die Zuspätaufsteher mit einem Rohrstock auf den nackten, nassen Hintern bestraft. Jeden Tag dasselbe, und es sind bei den Bettnässern immer die Gleichen. Sie haben so große Angst davor, wieder und wieder ins Bett zu machen, dass sie sich heimlich ihre Zipfel vorne mit einer Schnur zubinden. Das tut, wenn man dann doch muss, weh, sagt der kleine sechsjährige Werner neben mir, der so schmal und dünn ist
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