Auf Amerika
wie ein Vierjähriger und jeden Tag ins Bett macht und jeden Tag dafür gezüchtigt wird. Sein Hintern ist schon ganz blau. Schon fünfmal ist der Werner, der keine Eltern mehr hat, davongelaufen. Immer wieder hat ihn die Polizei zurückgebracht. Er würde gerne zu seiner Oma kommen, von der er immer erzählt, die ihn aber noch nie besucht hat. Die lebt in Frankfurt, sagt er, oder in Köln. Da will er hin, aber er kommt über die Kreisstadt nie hinaus. Immer wieder fangen sie ihn ein und bringen ihn zurück, und er wird geschlagen, dass man seine Schreie durch das ganze Gebäude hört. Vielleicht gibt es die Oma gar nicht, und er hat sie sich nur ausgedacht, damit er irgendjemanden hat auf der Welt.
Um halb sechs müssen wir angezogen in Reih und Glied, wie die Schwester sagt, in der Halle stehen, fertig zum Kirchgang. Unter Bewachung marschieren wir über den Klosterhof zur Klosterkirche. Am Wegesrand müssen die Bettnässer stehen und ihre Betttücher hochhalten und sich schämen. Sie dürfen nicht in die Kirche gehen, weil sie ja Sündige und Befleckte sind und als solche Gott dem Herrn nicht unter die Augen kommen dürfen. Sie müssen in der Zeit, in der wir in der Kirche sind, ihre Laken auswaschen.
Eine Dreiviertelstunde knie ich in der kalten Klosterkirche auf harter Holzbank und höre und schaue der von einem alten Pfarrer, der eine Glatze hat, gehaltenen Messe zu. Was mir daheim eine Freude ist, das Gewand des Hochwürden und der Ministranten, das Orgelspiel und der Weihrauchduft, die andächtigen Gesichter der Menschen, die zur Heiligen Kommunion nach vorne kommen, die Gebete, Predigten und Lieder, die Kreuzwegbilder, das Gold des Altars, das Geheimnis des Allerheiligsten, all das ist mir hier eine Qual. Wäre die Züchtigung mit dem Rohrstock nicht, ich würde extra ins Bett machen, um nicht in die Kirche zu müssen.
Der Veit sagt, dass es den Herrgott gar nicht gibt. Ich glaube jetzt, dass es zwei Götter gibt. Den einen, der bei uns draußen im Dorf in der Kirche wohnt und für gute Ernten und gesunde Viecher sorgt und dessen Stellvertreter der gütige Herr Hochwürden ist. Und es gibt diesen Gott hier, der Waisenkinder, wenn sie keine Bettnässer sind, und Klosterschwestern täglich in seine Kirche zwingt, der zulässt, dass kleine Kinder geschlagen werden, Kinder, die keine Mutter und keinen Vater haben und schon gar nicht eine Lammermutter oder einen Veit. Ich mag den Gott der Waisen und der Klosterschwestern nicht, dem zu Ehren sie jeden Tag diese Oblaten essen, was das Fleisch oder das Blut Christi oder so was sein soll. Und ich mag diese Klosterschwestern nicht, diese Elstern, die streng und böse dreinblicken, als seien alle Menschen schuld daran, dass sie immer diese schwarzweißen Sachen anhaben müssen, als wollten sie uns bestrafen dafür, dass sie jeden Tag in die Kirche gehen müssen und dass sie sich nicht wie die Frauen bei uns auf dem Dorf zu einem Mann legen dürfen, damit sie Kinder kriegen. Da hat es bei uns jede Kuh besser.
Im Waisenhaus machen sie dich katholisch, hat die Lammermutter gesagt. Das glaube ich nicht.
Nach dem Kirchgang gibt es im großen Saal Milchkaffee und ein Marmeladebrot, und dann heißt es antreten zum Schulgang. Zu zweit nebeneinander, wie schon beim Kirchgang, marschieren wir in die Stadt, wo uns die begleitende Schwester in der großen Volksschule abgibt, wo Hunderte von Kindern sind und ich mit lauter Gleichaltrigen in einer Klasse bin, nicht wie auf dem Dorf daheim, wo alle acht Klassen in einem Raum sind. Der Lehrer ist streng und unfreundlich. Die Waisenkinder darf er schlagen, die anderen Kinder nicht. Irgendwer muss ihm gesagt haben, dass ich kein Waisenkind bin, denn er schlägt mich nicht. Die Stadtkinder lerne ich nicht kennen. Sie sitzen alle auf einer Seite, und im Pausenhof sind sie unter sich. Ich glaube, sie dürfen mit den Waisenkindern nicht reden. Nach der Schule holt uns die Schwester wieder ab und bringt uns zurück ins Waisenhaus. Von der Stadt sehen wir nur, was auf diesem täglichen Weg liegt. Dann gibt es Mittagessen im großen Saal. Es schmeckt mir meistens nicht, und ich habe Sehnsucht nach der Küche der Lammermutter und nach der Scheune und dem Schuppen und dem Bienenhaus, nach den Wiesen und Feldern, den Tieren, den anderen Kindern, nach der Lammermutter, dem Lammervater, dem Sepp und seiner Ziehharmonika, nach dem Veit und nach dem Messmer-Ludwig und nach meiner Mutter auch, sogar nach dem Lehrer Geißreiter, nach dem Benno,
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