Auf Amerika
ach, und nach der Rosa.
Und wenn die Mutter stirbt, weil ich Heimweh habe, dann kann ich doch nichts dafür.
Nach dem Essen wird man zu Arbeiten eingeteilt. Abwaschen, Kartoffeln schälen, Flure fegen und wischen, Hof fegen, Herbst ist es und die Kastanien im Hof verlieren Blätter und Früchte. Einmal werde ich zur Gartenschwester eingeteilt. Aus der weißen Haube schaut ein freundliches, liebes Gesicht hervor. Sie ist noch jung, denke ich, und sie ist ganz anders als alle anderen Schwestern. Sie spricht mit einem und befiehlt nicht, sie zeigt einem, wie man Unkraut rauszieht, Blumen zurückschneidet, alles das, was meine Eltern zu Hause machen und was mich noch nie interessiert hat. Sie streicht mir manchmal über den Kopf, fragt nach meinem Zuhause. Sie erzählt, dass sie von einem Bauernhof abstammt und dass sie ihr Leben in die Hände des Herrn Jesus Christus gelegt hat, mit dem sie verlobt ist, und dass das aber ein ganz anderes Verlobtsein ist als das Verlobtsein draußen vor den Toren des Klosters. Ich verstehe das nicht, wie vieles, was sie sagt über Gott und Maria und Jesus und all die Heiligen.
Hier, im Klostergarten zu arbeiten, ist meine Lieblingsbeschäftigung, bis eines Tages etwas passiert. Ich schneide mit einer Schere die letzten verblühten Rosen ab. Eine späte Rose, die nur halb aufgegangen ist, bringe ich der Gartenschwester, die auf einem Schemel sitzt und Tulpenzwiebeln sortiert. Sie lächelt, als ich ihr die Rose bringe. Sie ist schön, wie sie an der Rose riecht, und ich würde sie jetzt gerne mit ihren Haaren sehen. Ich weiß nicht einmal, ob sie blonde oder braune oder schwarze Haare hat. Ich glaube, die Schwestern haben Glatzen unter ihren Hauben. Sie nimmt meine Hand, hält sie fest, hält mir mit der anderen Hand die Rose unter die Nase, die stark duftet, zieht dann meine Hand unter ihren Rock und zwischen ihre Beine. Sie hat nichts darunter an, ich spüre Haare, Feuchtigkeit, Wärme. Trau dich nur, sagt sie und schließt die Augen. Ich ziehe meine Hand weg und laufe davon. Ich bin verwirrt, wütend und enttäuscht. Soll sie das doch mit ihrem Verlobten machen, denke ich. Wenn ich danach wieder für den Garten eingeteilt bin, ist sie abweisend und schroff, wie die anderen Schwestern auch.
Nach der Arbeit müssen wir im großen Saal Hausaufgaben machen, die von einer besonders strengen Schwester beaufsichtigt werden. Zwei Stunden muss man sitzen, auch wenn man mit den Hausaufgaben nach einer halben Stunde fertig ist. Jetzt könnte man auf der Pfarrerwiese Fußball spielen oder in der Moosach Forellen fangen und am Lagerfeuer sitzen, man könnte Räuber und Gendarm spielen oder Ochs am Berg. Man könnte in der Schreinerei sein, wo man gerade einen Schrank zusammenbaut, oder man könnte beim Messmer-Ludwig sitzen und ihm zuhören, wie er vom Meer erzählt, und der Veit könnte dabeisitzen und sagen, dass der Ludwig so schön vom Meer spricht, dass man es rauschen hört. Ich höre das Rauschen, es ist der Herbst in den Kastanien vor dem hohen Fenster des Saales. Ich hab Heimweh. Jeden Tag. Immer.
Schon ist es Abend. Draußen ist es dunkel. Die Lichter der Stadt sehe ich wegen der hohen Mauer nicht. So, denke ich, muss es in einem Gefängnis sein. Nach den Hausaufgaben gibt es Abendessen, das Aufgewärmte vom Mittagessen. Dass die Klosterschwestern dasselbe essen wie wir, tröstet mich. Danach ist Andacht, wieder in der kalten Kirche, eine halbe Stunde lang. Daran dürfen jetzt auch die Bettnässer der letzten Nacht teilnehmen. Dann marschieren wir zurück ins Haupthaus und ab in den Schlafsaal und ins Bett. Um acht ist Nachtruhe. Manchmal kann ich nicht einschlafen, bin nicht müde, wovon auch, und denke an die Rosa.
60
So ging das zehn Wochen. Jeden Morgen um fünf Uhr früh zerriss eine Glocke den Schlaf. Dreimal besuchte mich mein Vater, wir gingen Eis essen, er sagte, dass es der Mutter gutgehe und sie mich liebhabe, wie er übrigens auch. Ich fragte ihn, ob der kleine Werner, der doch keine Eltern habe und wahrscheinlich nicht einmal eine Oma, ob der nicht bei uns wohnen könnte. Das fehlte ihm gerade noch, meinem Vater, noch so einen Treibauf mit durchfüttern müssen. Der habe es doch schön im Waisenhaus, anderen Kindern gehe es viel schlechter, die müssten hungern. Ich würde es doch selbst erleben, wie gut es einem im Waisenhaus gehe. Mein Vater wollte, dass es schön war im Waisenhaus und dass es mir dort gutging, darum fragte er mich nicht, wie es war, und ich erzählte
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