Auf Amerika
auch nichts. So musste er sich keine Sorgen machen und keine Vorwürfe, dass er mich aus Bequemlichkeit zehn Wochen lang abgeschoben hatte.
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Am 6. Dezember ist große Aufregung. Der Nikolaus, heißt es, wird direkt vom Himmel zu den Waisenkindern kommen. Am Nachmittag müssen wir uns im Hof aufstellen, wieder geordnet in Reih und Glied, wie Soldaten. Motorenlärm kommt auf, dann Wind. Ein Hubschrauber der Amis landet im Klosterhof. Wir sind sehr aufgeregt. Aus dem Hubschrauber kommt der Nikolaus in rotem Mantel und mit Zipfelmütze. Er hat einen großen Sack bei sich. Ein Lastwagen der Amis ist in den Hof gefahren, ebenfalls mit Säcken beladen. Soldaten springen vom Lastwagen. Sie haben Uniformen an und Nikolausmützen auf. Sie lachen und schreien gegen den Motor des Hubschraubers an. Sie reden amerikanisch. Die Oberschwester begrüßt den Nikolaus. Dann verteilen die Soldaten Geschenke aus den Säcken. Ich bekomme eine Tafel Schokolade und ein Halma-Spiel. Nach etwa einer Viertelstunde ist es vorbei. Der Lastwagen fährt mit den Soldaten ab, und der Nikolaus verschwindet mit dem Hubschrauber in den Wolken. Wir müssen in den großen Saal gehen. Die Schokoladetafeln werden eingesammelt. In den nächsten Tagen bekommen wir zwei, drei Stücke pro Tag. Alle haben irgendwelche Spiele bekommen. Große Freude herrscht. Wir dürfen nach der Abendandacht eine Stunde mit den Sachen spielen, dann werden sie auch eingesammelt. Wir sehen sie nie wieder. Als mich mein Vater eine Woche später für immer nach Hause holt, will ich mein Halma-Spiel haben. Das gehört dem Haus, sagt die Schwester, nicht den Kindern. Ich quengele, sehe das nicht ein, das hat doch der Ami-Nikolaus mir geschenkt. Doch mein Vater zieht mich mit sich. Die Aussicht, in einer Stunde wieder im Dorf zu sein, überwiegt die Enttäuschung. Wir gehen. Ein paar Kinder winken. Der kleine Werner steht da und weint. Ich hab ihm vorher noch gesagt, er soll weglaufen und zu uns kommen. Ich hab ihm den Weg beschrieben. Wenn er erst mal da ist, denke ich, dann wird meine Mutter ihn nicht mehr wegschicken.
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Er kam nicht, und ich hörte nie mehr etwas von ihm.
Als ich ein paar Jahre später auf dem Gymnasium war, ging ich manchmal an der hohen Mauer des Waisenhauses entlang. Ich sah, was mir damals gar nicht aufgefallen war, dass alle Fenster des großen Hauses vergittert waren. Es war tatsächlich ein Gefängnis.
Endlich war ich wieder daheim, hatte mein Hausen wieder. Es war eine Woche vor Weihnachten. Beim Holzer drechselte der Martin-Junior Eisstöcke, auf der Dorfstraße schüttete der Veit Wasser aus, damit man eine gute Eisfläche bekam fürs Eisstockschießen, und in der Kirche bauten die Ministranten die Krippe mit den lebensgroßen Figuren auf.
Wie war es im Waisenhaus?, wollte der Veit wissen. Ich erzählte ihm und merkte, wie in ihm eine Wut auf die Klosterschwestern hochstieg. Ich kannte einmal eine, sagte er, als ich jung war, die war die jüngste Tochter eines Bauern, hätte jeden Burschen als Mann kriegen können. Sie ist ins Kloster gegangen. Und was war sie da am Ende? Schwester Hühnerfütterin! Er lachte.
Mein Vater wollte es nicht wissen, wie es im Waisenhaus war. Meine Mutter war blass und still, und ich hörte, wie sie zur Lammermutter sagte, dass sie eigentlich gerne gestorben wäre. Ich weinte und konnte ihr nicht sagen, warum. Stundenlang saß sie auf einem Stuhl und schaute in den Garten. Sie spielte nicht mehr Klavier, sie fotografierte nicht mehr, sie fuhr nicht mehr mittwochs mit dem Bus mit den anderen Flüchtlingsfrauen in die Stadt. Mein Vater war kaum mehr zu Hause. Geschäfte, sagte er, aber keiner wusste etwas davon, dass Herbert Seiler irgendwelchen Geschäften nachgegangen wäre, die eine solche stetige Abwesenheit von zu Hause rechtfertigen konnten. Meine Eltern redeten auch nicht mehr miteinander. Stumm schoben sie sich beim sonntäglichen Frühstück, das sie wohl mir zuliebe noch aufrechterhielten, Butter, Honig und Marmelade zu.
Habt ihr euch nicht mehr lieb, wollte ich fragen, aber ich hatte Angst vor der Antwort. Also schwieg ich auch. Nach meiner Zeit im Waisenhaus fragten sie nicht. Es war, als hätte es die gar nicht gegeben. Ich war froh, dass es den Veit gab, dem ich alles erzählen konnte, nein, nicht alles, das mit der Gartenschwester erzählte ich ihm nicht. Ich schämte mich. Gelegentlich fragte mein Vater meine Mutter das eine oder andere, und er konnte sich nur mit Mühe beherrschen, keinen Wutausbruch
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