Auf Amerika
zu bekommen, wenn er von ihr keine Antwort bekam. Sie schwieg beharrlich. Meistens verließ er nach einem solchen Frühstück grußlos das Haus. Dann seufzte meine Mutter, beachtete mich nicht weiter und machte stumm ihre Hausarbeit. Wenn Vater nach Hause kam, oft betrunken, polterte er die Treppe hoch, ging ins Schlafzimmer und fiel so aufs Bett, dass ich dachte, es müsste zusammenbrechen. Manchmal hörte ich nachts flehende Bitten meiner Mutter, sie in Ruhe zu lassen. So viel wusste ich schon, dass er das mit ihr machte, was der Benno und ich beim Kranz-Toni und der Müllner-Lisa am Wald oben beobachtet hatten. Aber die Lisa hatte nicht geweint und gebeten, dass der Toni sie in Ruhe lassen sollte.
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Jeden Abend kommt meine Mutter jetzt an mein Bett, klopft mein Kissen zurecht, nimmt mich in die Arme und gibt mir einen Kuss. Das hat sie vorher noch nie getan. Ich liege im Dunkeln und rieche am Kissen. Es riecht nach ihr. Ich hab sie lieb und bin froh, dass sie nicht gestorben ist, obwohl ich so viel Heimweh gehabt habe.
Erster Schnee kommt, wir können Schlitten fahren. Aus der Bahn, Zitronenmann, hinten hängt der Teufel dran!, rufen wir und sausen den Hügel an der Hölle hinunter. Die Hölle ist eine dicht bewachsene Schlucht, an der Straße nach Hetzenbach gelegen. Sie heißt Hölle, weil es in ihr unheimlich ist und jeder Angst hat, sie zu betreten. Vor dem Krieg sind dort drei Bauern erschlagen worden, niemand weiß, von wem, von fremden Landarbeitern vielleicht. Die Lammermutter sagt, dass dort der Eingang zur Hölle ist und dass die Bauern ganz sicher vom Teufel persönlich erschlagen worden sind. Wenn man an der Hölle vorbeigeht, sagt sie, muss man sich dreimal bekreuzigen. Sie geht gar nicht erst vorbei. Dass sich mein Vater, wenn er zur Wirtin nach Hetzenbach geht, jedes Mal dreimal bekreuzigt, das glaube ich nicht. Der Hügel über der Hölle ist der steilste Hügel bei uns. Dort fahren wir Schlitten.
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Endlich, nach den Weihnachtsferien, saß ich wieder in der Schule, wo es nach Stallmist roch und manchmal nach Kohlengas. Wir riefen laut Kohlengas, Herr Lehrer, Kohlengas, dem Benno ist schon ganz schwindelig! Dann rissen wir alle Fenster auf und wurden in den Hof geschickt. Die Älteren mußten für den Lehrer Holz hacken, die Jüngeren die Geißen füttern oder bei der Sau ausmisten.
Wieder saß ich hinter der Rosa und sah ihre kleinen Löckchen zwischen ihren Zöpfen. Ich steckte meine Nase hinein und versuchte so was wie einen Kuss. Sie schlug nach mir, aber gar nicht fest, gar nicht so, wie wenn es ihr nicht gefallen hätte, und sie bekam einen ganz roten Kopf. Ich glaubte, sie liebte mich auch.
Ich war wieder daheim, und das war schön.
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Mein Leben ändert sich, als ich aufs Gymnasium gehe.
Zu den Dorfkindern kommen andere dazu. Die wachsen anders auf, leben in stattlicheren Häusern in der Stadt, haben drei Paar Schuhe, zu Hause ein Telefon und ganz viele Bücher und Schallplatten und einen Fernsehapparat, und sie haben nur ein paar Minuten Schulweg. Im Winter fahren sie am Wochenende in die Alpen zum Skifahren und im Sommer zum Starnberger See zum Segeln. In den Ferien fahren sie mit den Eltern nach Italien, damit sie besser Latein lernen. Ihre Eltern sind Lehrer oder Bauunternehmer, sie sind sehr reich, haben ein Auto und sind vornehm, Städterer halt, wie die Lammermutter sagt, die, glaube ich, nie in der Stadt gewesen ist.
Ich vergleiche meine Eltern, die jetzt wenigstens wieder miteinander reden, wenn auch lieblos, mit den Eltern der Stadtkinder. Meine schneiden nicht gut ab, und es dauert einige Zeit, bis ich es ertragen kann, dass mich meine Schulkameraden aus der Stadt im Dorf besuchen. Ich habe Angst, weil wir so arm sind.
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Am 6. Juni 1956, zu meinem zwölften Geburtstag, kamen zum ersten Mal mehrere Jungs aus der Stadt. Mit Fahrrädern fuhren sie heraus. Meine Freunde vom Dorf, die Geburtstagsfeiern nicht kannten, man feierte den Namenstag, nicht den Geburtstag, blieben fern. Der Benno musste mit seinen Geschwistern das Heu einfahren, es sollte in der kommenden Woche regnen.
Mutter hatte eine Erdbeertorte gebacken, es gab Kakao, alle brachten kleine Geschenke mit, ein Sigurd-Heft, ein Tarzan-Heft, ein Tom-Prox-Heft, ein Foto vom letzten Wandertag, eine Tafel Schokolade, ein paar Stangen Vivil und sogar ein Autogramm vom großen Torwart Toni Turek, das hatte der Mitschüler doppelt.
Der Nachmittag verging reibungslos. Meine Mutter war freundlich mit den Kindern, die
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