Auf Amerika
ihr besser gefielen als die Bauernkinder.
Dann kam mein Vater. Leicht betrunken, angeheitert kam er von einer Beerdigung zurück, die sehr lustig gewesen sein musste. Das kam vor, meistens dann, wenn der Schmerz über einen plötzlichen Verlust so groß war, dass man ihn im Alkohol ertränken musste. Wenn sehr alte Menschen starben, ging es auf der Leich, wie man das Essen und Trinken nach der Grablegung bezeichnete, nicht so lustig zu. Bei der Leich eines natürlich Gestorbenen stand einfach die Frage im Raum, hing wie ein Schwert über den älteren Männern und Frauen, wer würde der Nächste sein?
Meinem von Trauer trunkenen Vater fielen nun meine Schulkameraden aus der Stadt in die Hände. Er machte kleine alberne Späßchen und erzählte ihnen, wie konnte es anders sein, seine imposanteste Geschichte, die er nicht oft genug erzählen und immer wieder neu ausschmücken konnte. Die Jungs aus der Stadt freuten sich und hatten Spaß. Ich aber schämte mich. Mir war der Vater, der zu laut redete, leicht lallte, unglaublich wichtig tat, einfach nur peinlich.
Sehr viel später, an meinem 40. Geburtstag, dem ersten, an dem mein Vater nicht mehr lebte, im Juni 1984, wünschte ich mir, er hätte meinen Freunden, die ich eingeladen hatte, diese Geschichte erzählen können. Ich tat es selbst.
Die Geschichte ging so:
Im Juni 1944 erreichte meinen Vater im Feld die Nachricht von der Geburt seines Sohnes. Gerade von einer Verletzung im Lazarett in Berlin genesen, wollten sie ihn zusammen mit Vierzehnjährigen als Himmelfahrtskommando noch gegen den Russen schicken. Kurz vor dem Abmarsch erreichte ihn die Meldung. Er desertierte, sprang vom Lastwagen, schlug sich in die Büsche und gelangte auf abenteuerlichen Wegen nach Aussig, zu Frau und Sohn. Auf der Entbindungsstation zeigte man ihm ein Dutzend Neugeborener und forderte ihn auf, sich doch eines auszusuchen. Da zeigte er ohne zu zögern auf mich. Wie der Vater diese Geschichte erzählte, wie er sie veränderte, anreicherte, wie er, vom Saulus zum Paulus geworden, die Tatsache seines Desertierens ausschmückte, geradezu einen Widerstandsakt daraus machte, das wäre, wie überhaupt sein ganzes Leben, das sagte er selbst gerne, ein Roman gewesen. Und wenn er die Zeit dazu hätte, sagte er stets, würde er ihn schreiben.
Dein Vater ist ein lustiger Vogel, sagte der Erwin, der in der Schule neben mir saß.
Ich schämte mich.
67
Die Mutter meines Vaters und der Vater meines Vaters leben nicht mehr. Sie sind gestorben, als mein Vater ein Kind war. Der Vater meiner Mutter ist während des Krieges gestorben. Ich habe also keinen Großvater, nur eine Großmutter, die Mutter meiner Mutter, die wir die Berliner Oma nennen. Während ihre Töchter Ruth, Barbara und meine Mutter mit ihren Männern nach der Flucht in Bayern geblieben sind, ist meine Oma gleich nach dem Krieg wieder nach Berlin gegangen. Sie wollte ohne Berlin nicht leben, hat sich über den Krieg einen kleinen Wohlstand gerettet, auf dem sie, wie mein Vater sagt, wie eine Glucke sitzt. Einmal im Jahr, seit wir das Haus haben, und immer dann, wenn Ferien sind, kommt sie für zwei Wochen zu uns und macht, wie mein Vater sagt, die mondäne Dame, die Hof hält. Ich weiß nicht, was mondän ist, aber der Vater sagt, dass die Oma das ist. Und dass sie eine Dame ist, sagt er auch. Die Bauern sind von ihr beeindruckt, sie ist eine fesche Frau, sagen sie, wenn sie erhobenen Hauptes durchs Dorf geht, mit einer gnädigen Handbewegung jedermann grüßt, aber mit niemandem spricht. Solche Erscheinungen kennt man bei uns nicht. Da hat man Respekt. Sie geht wie eine Königin, sagt die Lammermutter.
Ich mag die Oma nicht. Sie ist streng, meckert an mir, meinem Vater und meiner Mutter herum, ist herrisch, und es muss alles so sein, wie sie es will. Nichts ist ihr recht, alles muss sich um sie drehen, sie ist wie ein böser Geist im Haus. Die zwei Wochen sind immer furchtbar. Wenn mein Vater sie dann am Ende zum Bus bringt, mit ihr nach München fährt, um sie dort in den Zug nach Berlin zu setzen, sind wir alle erleichtert. Dann erst sind Ferien.
Die Berliner Oma ist geizig. Sie schenkt zu Weihnachten oder zum Geburtstag nur alte, gebrauchte Sachen. Dem Vater schenkt sie eine abgewetzte Krawatte, die schon der verstorbene Opa getragen hat und die mein Vater nur so lange aufhebt, bis er sie einmal in ihrer Anwesenheit getragen und sie das gemerkt hat. Außer, wenn er mit der Kanone für einen verstorbenen Krieger schießen muss,
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