Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
»Zirkus« nicht so auskenne, der da jedes Wochenende über den Bildschirm flimmerte, sondern völlig unvoreingenommen an die Sache herangehe. Maja erinnerte an den Fußballweltmeistertitel der deutschen Frauennationalmannschaft. Gegenworte gab es nicht. Die Europameisterschaft 2004 in Portugal war uns schließlich noch hinlänglich in Erinnerung. Im Prinzip hatten wir auch nichts gegen die Zuständigkeit der Staatsanwältin einzuwenden. Insgeheim waren wir nur ein bisschen neidisch auf die interessante Materie dieses Ermittlungsverfahrens, die Vernehmungen berühmter Spieler, Schiedsrichter usw. Egal. Vielleicht würde die Staatsanwältin, die nicht weit von uns (eine Etage höher) saß, einmal in unser Zimmer kommen und nach unserem geballten |105| Sachverstand fragen. Dann könnten wir zusammen Videoaufnahmen anschauen und auswerten, ob es in dem einen Fall ein Handelfmeter gewesen war und ein anderes Mal der Spieler klar im Abseits stand.
Am Ende der Kaffeerunde erklärte dann Oberstaatsanwalt Berndt, dass er noch ein paar Änderungen bezüglich der Geschäftsverteilung in unserer Abteilung bekanntgeben müsse. Da Gerlinde zwei wichtige Sonderfälle umgehend anklagen müsse, solle sie vorübergehend von ihrem sonstigen Dezernat freigestellt werden. Die Vertretung ihres Dezernats bis Mitte Mai sollten Mona und ich übernehmen. Wir waren von dieser Nachricht ziemlich geplättet. Das Dezernat von Gerlinde war bekanntermaßen mit deutlichem Abstand das umfangreichste in unserer Abteilung. Die Hälfte davon war beinah so viel wie ein volles Dezernat anderer Kollegen. Mona und mich würde jede Menge Arbeit erwarten. Gerlinde hob beschwichtigend die Hände und meinte, das sei alles kein Problem. In zwei Wochen wäre die Sache erledigt.
Das einzig Gute daran sei, dass sie künftig abends nicht immer so lange allein im Zimmer sitzen müsse, meinte Maja. Überrascht schaute ich zu ihr rüber. Anna hatte offensichtlich, was zynische Sprüche anging, eine würdige Nachfolgerin gefunden. So richtig lachen konnte ich trotzdem nicht.
Jens kam später in unser Zimmer und erklärte uns die Sache mit den Schleuserverfahren, alten und umfangreichen Ermittlungsakten aus dem Dezernat von Gerlinde. Gerlinde hätte »einfach zu lange auf den Dingern herumgesessen«. Normalerweise wäre es allein ihre Angelegenheit, diese Verfahren »nebenbei« zum Abschluss zu bringen. Aber bestimmte Verwicklungen hätten dazu geführt, dass wir ihr |106| nun den Rücken freihalten müssten, meinte Jens mit erhobenem Finger. Mit »wir« konnte Jens nur Mona und mich meinen, da wir Gerlindes Dezernat übernommen hatten. »Was sind denn das für Verwicklungen?«, wollte ich wissen.
Jens seufzte: »Also, dazu muss man die Vorgeschichte kennen.« Er setzte sich und erklärte sie uns. Ende der neunziger Jahre wurden in den deutschen Botschaften und Konsulaten immer mehr Anträge auf Besuchsvisa gestellt. Diese waren meistens auf drei Monate begrenzt und durften unter anderem nur dann erteilt werden, wenn keine Zweifel an der Rückkehrbereitschaft bestanden und die einladende Person in Deutschland sich für den Reisenden verbürgte, also Risiken wie Krankheit versicherte oder auch die Kosten für die Rückreise abdeckte. Der enorm hohen Zahl der Antragsteller stand aber eine viel zu geringe personelle Ausstattung der Konsulate und Botschaften gegenüber, und so wurden einige von Antragstellern regelrecht belagert. Einen extremen Fall bildete die deutsche Botschaft im ukrainischen Kiew. Dort bildeten sich bereits seit einigen Jahren extrem lange Schlangen vor dem Botschaftsgelände. Die deutsche Botschaft in Kiew stellte 1999 zirka 150 000 Dreimonats-Einreisevisa aus. Später wurde mal anhand der Personalzahlen berechnet, dass die durchschnittliche Bearbeitungszeit für ein Visum in der Ukraine nur wenige Minuten betragen haben konnte. Da also lediglich eine recht oberflächliche Prüfung erfolgte, bestanden ideale Bedingungen für bandenmäßige Schleuser.
Innerhalb der Botschaft sorgte der Bundesgrenzschutz für Ordnung, außerhalb dagegen ukrainische Sicherheitskräfte. Antragsteller berichteten später, dass einige dieser Wachleute Geld von ihnen forderten, damit sie unbehelligt blieben. |107| Sie verlangten umgerechnet zwischen 50 und 250 Euro je nach Platz in der Warteschlange. Daraus entwickelte sich mit den Jahren eine regelrechte »Warteschlangen-Mafia«. Vor den Augen der machtlosen Botschaftsangehörigen entschieden organisierte
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