Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
Banden, wer gegen Gebühr ein oder zwei Schritte in der Schlange vor der Visastelle vorrücken durfte.
Nicht zuletzt aufgrund solcher Zustände wurden in der Folgezeit erhebliche Reiseerleichterungen durch die Bundesregierung eingeführt, die jedoch leider auch der Schleuserkriminalität Tür und Tor öffneten. Sie führten insbesondere in der deutschen Botschaft in Kiew (nochmals!) zu einem erheblichen Anstieg an ausgeteilten Visa. Zwischen 1999 und 2001 kam es fast zu einer Verdoppelung auf rund 300 000 Visa.
Die Reiseerleichterungen wurden für kriminelle Schleusungen von Tausenden Menschen missbraucht. So wurde beispielsweise der Geschäftsführer eines deutschen Reisebüros zu einer mehrjährigen Freiheitsstrafe verurteilt, nachdem ihm nachgewiesen werden konnte, dass er massenhaft Gruppenreisen mit fingierten Programmen beantragt und an die deutsche Botschaft in Kiew weitergeleitet hatte. Die in Deutschland Eingereisten, so stellte das Gericht fest, waren umgehend untergetaucht, hatten sich in andere Länder abgesetzt oder gingen der Prostitution nach. In die breite Öffentlichkeit rückte diese Visavergabepraxis ab Februar 2004. Die Zustände um das Botschaftsgelände in Kiew waren weitgehend bekannt. Zudem gab es erste Urteile über »bandenmäßige Menschenschleusung« gegenüber einzelnen Angeklagten, in denen dem Außenministerium vorgeworfen wurde, dieser Praxis durch »schweres Fehlverhalten |108| Vorschub geleistet« zu haben. In den Regierungserlassen wurde ein »kalter Putsch gegen die bestehende Gesetzeslage« gesehen.
Es entwickelte sich die sogenannte Visa-Affäre und Ende 2004 wurde ein Untersuchungsausschuss eingesetzt, der klären sollte, wer für die zehntausendfache Erschleichung von Visa zwischen 1999 und 2002 verantwortlich zeichnete.
Einer der ersten und sicherlich wesentlichen Ermittlungsschritte des Untersuchungsausschusses war es, bei den einzelnen Staatsanwaltschaften in Erfahrung zu bringen, um wie viele Missbrauchsfälle es sich tatsächlich handelte. Man wollte schließlich genau wissen, über welche Ausmaße man verhandelte.
Bei diesen Schleuserfällen handelte es sich überwiegend um sehr schwere Verstöße gegen das Ausländergesetz, Urkundenfälschung und Ähnliches. Zuständig waren bei der Staatsanwaltschaft Berlin meistens keine Spezialabteilungen, sondern die Buchstabenabteilungen. Jeder hier Beschäftigte kannte diese Schleuserverfahren. Sie wurden gleichmäßig unter den Staatsanwälten aufgeteilt. Die Ermittlungen und die Abfassung der Anklagen waren aufwändig. Jedes Ermittlungsverfahren bestand bereits aus einem »Gürteltier«. Dazu gehörten meist mehrere Kartons voll mit Unterlagen, die bei den Beschuldigten beschlagnahmt worden waren und ausgewertet werden mussten. Ein Verfahren konnte ohne Weiteres aus zweihundert bis vierhundert Einzelfällen bestehen. Die zu fertigenden Anklageschriften waren oft unfassbar lang. Wenn der Staatsanwalt sie zu Beginn einer Hauptverhandlung verlesen musste, konnte dies Stunden dauern.
Diese Ermittlungsverfahren waren nun, auch durch die Anfragen des Untersuchungsausschusses, in besonderem |109| Maße ins Interesse der Öffentlichkeit gerückt. Die Staatsanwaltschaft Berlin wollte sich dabei nicht in schlechtem Licht präsentieren. Soweit einige Verfahren noch nicht zur Anklage gebracht worden waren, sollte dies jetzt zügig passieren. Damit die überlasteten zuständigen Staatsanwälte nicht alle anderen Fälle für längere Zeit liegenlassen mussten, wurde entschieden, dass die noch offenen Schleuserfälle von den Abteilungsleitern selbst umgehend abzuschließen waren.
In unserer Abteilung hatte fast jeder Staatsanwalt mindestens ein dickes Schleuserverfahren erhalten. Das geschah schon vor meiner Zeit. Alle hatten es mittlerweile geschafft, diese Verfahren »nebenbei« zur Anklage zu bringen. Alle außer Gerlinde. Sie hatte noch zwei offene und dabei sehr umfangreiche Schleuserverfahren in ihrem Dezernat. Sie bestanden neben mehrbändigen Akten aus diversen Kisten, voll mit Aktenordnern. Nach mehreren staatsanwaltschaftlichen Ermittlungsschritten meinte Gerlinde, dass die Fälle nun reif für die Verfassung einer Anklageschrift waren. Es wäre eine der nächsten größeren Sachen gewesen, die sie in Angriff nehmen wollte. Wie auch immer, jetzt war Oberstaatsanwalt Berndt dafür zuständig.
»Das alles«, meinte Jens zu uns, »wäre eigentlich nicht euer Problem. Aber Gerlinde ist in die Fälle eingearbeitet. Sie
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