Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
aus seiner Zelle irgendwelches Zeug in den Gefängnishof brüllte, was vor allem nachts schier unerträglich war, wenn man am Schlafen gehindert wurde.
Plötzlich rasselte der Schlüssel und die Zellentür ging auf. Wärter schoben einen weiteren Häftling in die Zelle, zeigten ihm das leere Bett und wollten die Zellentür von außen wieder verschließen. Sofort sprang Rainer wütend an die Tür und schlug mit den Fäusten dagegen:
»Das könnt ihr vergessen. Hier ist alles voll. Drei Leute in der kleinen Zelle bei dieser Hitze. Ihr spinnt wohl!« Die Wärter öffneten nochmals die Tür und erwiderten gelangweilt, dass Rainer ja Beschwerde einlegen könne. Für die hohen Belegungszahlen könnten sie schließlich auch nichts.
Jetzt schaltete sich der neue Häftling ein. Sinan schätzte ihn auf höchstens fünfundzwanzig Jahre. »Ich verwahre mich gegen diese Behandlung. Ich bin ein politischer Gefangener. Ich lasse an mir kein Exempel statuieren. Sie können mich doch nicht mit gewöhnlichen Kriminellen zusammensperren. |155| Das hat ein Nachspiel. Und wenn ich bis zum Europäischen Gerichtshof gehen muss.«
Die Zellentür fiel ins Schloss. Ungläubig starrte der neue Häftling auf die Tür. Als er sich umdrehte, hatte er in zehn Zentimetern Entfernung das wütende Gesicht von Rainer vor der Nase: »Gewöhnliche Kriminelle, ja?« Rainer ging wieder zu seinem Bett zurück und zischte ihm mit zusammengekniffenen Augen zu: »Am besten, du fängst noch mal ganz von vorne an, Kumpel. Das ist Sinan und ich bin Rainer.« »Benjamin«, erwiderte der Häftling kleinlaut mit rotem Gesicht. »Nichts gegen euch, aber den Kampf gegen die Globalisierung und die Kapitalistenschweine führen wir schließlich auch für euch. Mit diesen Maßnahmen hier versucht man uns mundtot zu machen. Das Gericht wird schon bald die Rechtfertigung für mein Handeln erkennen und mich freilassen.« »Ja, klar«, gähnte Rainer. Benjamin erzählte, was ihm »zugestoßen« war. Er war 23 und nach Berlin gekommen, um Soziologie zu studieren. Hier hatte er sich schnell einer Gruppe angeschlossen, die sich gegen die Globalisierung sowie Hab- und Machtgier der Reichen richtete. Durch spektakuläre Aktionen in der Berliner Innenstadt wollten sie auf ihre Ziele aufmerksam machen. Zunächst hatten sie sich an Ampelanlagen von Hauptstraßen postiert. Sie lauerten teuren Cabriolets auf und warfen während der Rotphase, wenn die Autos warten mussten, gefüllte Plastiktüten mit übel riechenden Fäkalien in die Fahrzeuge. Die Tüten platzten und liefen in den Fahrzeugen aus. Solche Aktionen alleine reichten natürlich nicht aus. Vor einiger Zeit waren sie ins Ausland gefahren, um in Göteborg zu demonstrieren, wo gerade der E U-Gipfel stattfand. Sie waren der Ansicht, dass nur klar sichtbare Aktionen in der |156| Nähe der Regierungschefs etwas brachten. Das widersprach nun wieder dem Sicherheitskonzept der Polizei und führte schließlich zu regelrechten Straßenschlachten. Dabei hatte Benjamin »aus reiner Notwehr« auch ein paar Pflastersteine auf Polizeibeamte geworfen. Außerdem hatte er sich an Steinwürfen »gegen das Kapital« beteiligt. Sinan und Rainer hatten so eine Ahnung, dass damit so ziemlich jeder gefährdet gewesen war, der sich an diesem Tag in einer Bankfiliale aufgehalten hatte.
In Göteborg waren derartige Massenausschreitungen bis dahin nicht vorgekommen. Die Polizei war jedenfalls auf die vielen gewalttätigen Demonstranten nicht vorbereitet. Sie bekam die Straßenschlachten nicht in den Griff, und so zogen sie sich über Stunden in der gesamten Innenstadt hin. Zweitausend Polizeibeamte waren drei Tage lang im Einsatz. Bei späteren EU- und G 8-Gipfeln sah man sich aufgrund dieser Vorfälle gezwungen, den Sicherheitsstandard erheblich zu erhöhen.
Da die Polizei die Lage kaum beherrschte, war an Festnahmen oft gar nicht zu denken. Die Demonstranten waren meist vermummt, sie trugen Kapuzen oder Skimasken. Konnte die Polizei im Nachhinein noch Täter überführen? Sie konnte es mit beachtlichem Erfolg! Polizeibeamte hatten die Randalierer von Dächern aus mit ausgezeichnetem Filmmaterial aufgenommen. Am Tag nach den Krawallen führte die Polizei in erheblichem Umfang Personenkontrollen in der Innenstadt durch. Besonders von Verdächtigen im Alter bis 30 Jahre, die aus dem Ausland oder anderen Städten stammten, wurden die Personalien festgestellt und Fotografien gefertigt. Festnahmen konnte es zu diesem Zeitpunkt natürlich nicht
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