Auf Bewährung - mein Jahr als Staatsanwalt
dieses noch nicht auf freiem Fuß, die für den Diebstahl einer Wodkaflasche zu erwartende Strafe hätte er jedoch in einer anderen Strafanstalt unter wesentlich angenehmeren Bedingungen abbüßen |145| können. So aber saß er immer noch in Untersuchungshaft und musste unter den miesen Bedingungen leiden. Das war einfach ungerecht. Nach so langer Zeit konnte man ihn doch nicht verurteilen. Warum sollte es nicht auch hier, wie in Chemnitz, einen Freispruch geben. Also musste er nur noch den Prozess abwarten.
Er registrierte erleichtert, dass das dritte Bett leer war. Ganz so eng würde es dann glücklicherweise doch nicht werden. Den anderen Häftling, Rainer, schätzte er auf ungefähr vierzig Jahre. Die ersten Gespräche mit ihm ergaben, dass er wegen ähnlicher Strafvorwürfe auf seine Verhandlung wartete. Rainer meinte, dass diese Zellen normalerweise von zwei Personen benutzt wurden. Wegen der chronischen Überbelegung der Justizvollzugsanstalten kam es jedoch ab und zu vor, dass man sich die Zelle zu dritt teilen musste. Rainer schien ganz in Ordnung zu sein. Mit ihm würde er schon zurechtkommen.
Ansonsten musste er sich weiterhin mit dem tristen Alltag eines Untersuchungshäftlings abfinden. Schon um 6:15 Uhr wurde man geweckt und ab 6:45 Uhr gab es Frühstück. Ab 7:30 Uhr hatten die Häftlinge dann in einer genau festgelegten Reihenfolge eine Stunde Hofgang unter freiem Himmel. Auf diese Stunde legte Sinan sehr viel Wert. In der Zelle war es recht dunkel und muffig. Ab 11:45 Uhr wurde Mittagessen verteilt und ab 16:45 Uhr das Abendessen. Danach erfolgte bereits der Einschluss in die Zelle bis zum nächsten Morgen. Das war die nervigste Zeit. Einen Fernseher gab es in der Zelle nicht. Sie hatten aber die Möglichkeit, sich in der Bibliothek Bücher oder Zeitschriften auszuleihen.
Die Besuchsregelung war eine Katastrophe. Rainer |146| schimpfte regelmäßig darüber. Grundsätzlich durfte man nur einmal alle zwei Wochen Besuch empfangen. Das Verfahren war zudem sehr umständlich. Zunächst musste mit der Justizvollzugsanstalt ein Besuchstermin vereinbart werden, einfach mal vorbeizukommen, war nicht möglich. Anschließend hatte sich der Besucher von der Geschäftsstelle der Staatsanwaltschaft (oder wenn bereits Anklage erhoben wurde, von der Geschäftsstelle des Gerichts) einen sogenannten Sprechschein zu besorgen, die offizielle Genehmigung. Natürlich war es möglich, dass ein Justizbediensteter bei dem Gespräch mithörte.
Sinan war das im Prinzip egal, da er ohnehin niemanden hatte, der ihn besuchen wollte. Sein kleiner Freundeskreis wohnte nicht in Berlin und es wollte keiner von denen kommen, obwohl er ihnen geschrieben hatte. Zu seinen früheren Komplizen hatte er aus guten Gründen derzeit keinen Kontakt.
Für Rainer war das ein größeres Problem. Er stammte aus Berlin und trotz mehrfachen Protests durfte ihn seine Freundin nicht besuchen. Das wurde mit Verdunklungsgefahr begründet. Es bestand der Verdacht, dass seine Freundin irgendwie auch in die Taten verwickelt war, die ihm vorgeworfen wurden. Wenigstens durfte seine Freundin ihm etwas Geld auf ein Konto der Justizvollzugsanstalt überweisen. Die Verhältnisse hier drinnen musste man schon als karg bezeichnen, so aber konnte Rainer in einem kleinen Laden Süßigkeiten und anderes kaufen. Er gab Sinan häufiger etwas ab, wofür Sinan wirklich dankbar war. Er hatte schließlich niemanden, der ihm Geld schickte. Der Tagesablauf in der Vollzugsanstalt ging Rainer mächtig auf die Nerven. Er hatte sich bereits mehrmals, aber bisher erfolglos |147| um eine Arbeit in der Vollzugsanstalt beworben, da er nicht den ganzen Tag in der Zelle über seine Tatvorwürfe und eine vielleicht dunkle Zukunft nachdenken wollte.
Die Justizvollzugsanstalt Moabit war grundsätzlich nur für die Untersuchungshaft vorgesehen. Aufgrund der ständigen Überbelegung der anderen Berliner Vollzugsanstalten waren jedoch gut die Hälfte der Insassen keine Untersuchungshäftlinge, sondern Strafgefangene. Sie waren bereits rechtskräftig verurteilt und büßten eine Freiheitsstrafe ab. Es dauerte oft sehr lange, bis diese Strafgefangenen in andere Haftanstalten verlegt werden konnten. In der Justizvollzugsanstalt Moabit wurden über dreihundert Arbeitsstellen angeboten, die aber aufgrund der hohen Fluktuation unter den Häftlingen nicht alle ständig belegt waren. Dem standen mehr als zwölfhundert Häftlinge gegenüber. Der wesentliche Teil dieser
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