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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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zögernd. »Wie gesagt, ich kann die Zeremonie bei einer Verbrennung leiten. Wenn alles gesagt und getan ist, ist es nicht viel anders als bei einer Beerdigung. Aber - was soll Ihrem Wunsch nach mit der Asche geschehen? Wo soll sie begraben werden?«
    »Das ist der Punkt«, sagte er und sah mich scharf an. »Aber ich glaube, ich muss es Ihnen erst einmal erklären. Damit es keine Missverständnisse gibt.«
    Ich stellte mich auf eine lange Rede ein, deshalb machte ich es mir in dem, was in einem solchen Heim als Lehnstuhl bezeichnet wird, so bequem wie möglich.
    »Es ist so, Rabbi«, begann er. »Ich bin 1946 in dieses Land gekommen. Damals war ich jung, zumindest jung an Jahren. In anderer Hinsicht war ich jedoch schon ein alter Mann. Ich hatte bereits viel gesehen. Viel zu viel. Und eine von den Sachen, die ich gesehen hatte, während ich als Sklave arbeitete, war der Schornstein. Genau genommen waren es zwei Schornsteine. Ein kleiner und ein größerer.
    Und durch einen dieser Schornsteine gingen mein Vater und meine Mutter und meine beiden Schwestern Katja und Anja und meine Tante Gittel und mein Onkel Itzik und meine beiden jungen Cousins und mein Großvater. Ich weiß nicht genau wann, aber ich nehme an, es muss kurz nach unserer Ankunft gewesen sein. Ich brauchte eine Weile, um mich zu orientieren, um herauszufinden, was all die Zeichen bedeuteten und wozu die Gebäude da waren. Die Leute sagten es einem manchmal, aber sie benutzten Scherznamen.
    Damals entschied ich - es war eine seltsame Entscheidung, Rabbi, ich habe mich in den vergangenen Jahren oft selbst darüber gewundert, aber es war eine echte Entscheidung, ein echtes Gefühl, etwas, das sich in mir öffnete und stark und klar wurde -, ich entschied, dass ich, wenn dies der Weg zum Himmel war, in den klaren, blauen Winterhimmel, dass ich dies ebenfalls wollte. Ich wollte nicht zu Erde oder Schlamm werden, nicht zu einem Haufen Knochen in einem Massengrab. Ich wollte ebenfalls verbrannt werden. Befreit werden von meinem Körper. Nichts zurücklassen. Die Welt mit all ihrem Elend, ihrem Hunger und ihren Qualen verlassen, Teil der Wolken werden. Verstehen Sie?«
    Ich nickte. Traditionelles Judentum hat sich immer mit der Begründung gegen eine Verbrennung ausgesprochen, dass ja die Toten auferstehen, wenn der Messias kommt, und das würde schwer werden, wenn ihre Körper nicht zumindest skelettmäßig intakt wären - aber das ist jetzt, nach allem, was geschehen ist, ein ziemlich schwaches Argument. Dennoch leiten einige meiner Kollegen, vor allem die orthodoxen, keine Verbrennungszeremonie, sie finden das geschmacklos.
    Ich murmelte etwas in dieser Richtung, und Mr Rosenblum nickte. »Ich weiß. Rabbi Wilensky hat mir einmal erklärt, warum er es nicht tun würde. Das ist jetzt schon eine Weile her, aber ich erinnere mich, dass ich mit ihm darüber gestritten habe. Christlichen Kindern erzählt man etwas von einer Art Großpapa, der jedes Jahr durch den Schornstein kommt und Geschenke bringt. Jüdischen Kindern erzählt man von einem Großpapa, der durch den Schornstein ging und nichts zurückließ.«

Eine zweite Runde

    Der Schmerz war gekommen, als er ihn am wenigsten erwartete. Er kam plötzlich und lähmend, drückte wie ein schwerer Balken auf seinen Körper, verdoppelte sein Gewicht und fühlte sich an wie ein Krampf, wie ein plötzliches Bremsen, fast so, als wäre man gegen eine Mauer gefahren. Plötzlich konnte er sich nicht mehr vorwärtsbewegen; was eine flüssige Bewegung werden sollte, erstarrte in quälender Lähmung. In seinen Ohren klopfte es, aber er konnte die Menschen um sich herum hören, ihre Stimmen, ihre Sorgen. Seine Augen waren fest geschlossen, doch er konnte noch immer sehen: Das Zimmer war hell, draußen vor dem Fenster standen Bäume, und allmählich (wie lange das genau dauerte, konnte er hinterher nicht mehr sagen) veränderte sich das Bild, bis er auch sich selbst sah, mitten im Raum. Da merkte er, dass der Schmerz weggefallen war, er spürte nur noch den Widerhall des Schmerzes, nur noch ein Echo dessen, was jener Er dort mitten im Raum fühlte: einen leichten Anflug von Unbehagen, das der andere offensichtlich verspürte, wie er so halb auf dem Sofa, halb auf dem Boden lag, die Arme um die Brust geschlagen. Die Menschen - seine Frau und sein Freund - liefen herum, einer war am Telefon, einer weinte, aber irgendwie war jetzt alles verschwommen und lautlos, und er konnte keine Worte mehr verstehen. Er spürte nur noch

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