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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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Badewanne.«
    »Haben Sie gesehen, wie es passiert ist?«
    »Nein, aber manchmal höre ich das Klappern, wenn etwas herunterfällt.«
    »Sind Sie … in irgendeiner Weise … verletzt worden?«
    »Nein, ich bin nicht getroffen worden. Nein.«
     
     
    Ich nahm mir Zeit zum Nachdenken. War sie hysterisch? Sie war kein Teenager mehr. Um die siebzig. Eine leise Stimme, sagte sie, kaum wahrzunehmen? Das konnte genauso gut das Radio von nebenan sein oder der Fernseher der Nachbarn. Dinge, die sich bewegen? Womöglich hatte sie einfach vergessen, dass sie selbst etwas woanders hingelegt hatte, oder die Wohnung bewegte sich ein wenig. Wir alle kennen die Erschütterungen, wenn schwere Lastwagen vorbeifahren. Aber sie sei verzweifelt, hatte sie gesagt, und sie sei zu mir gekommen, weil der Vikar ihr nicht helfen konnte. Mir schien das eine jener Situationen zu sein, in denen man jemanden nur aus dem Büro hinauskomplimentiert bekommt, indem man ihm seinen Willen tut und hofft, dass ihn das nicht dazu ermutigt, wiederzukommen. Sie lebte nur fünf Häuser weiter, und ich hatte für die nächste Stunde keinen anderen Termin. Also, was soll’s?, sagte ich mir und seufzte.
    Ich erklärte ihr, dass wir im Judentum keinen Exorzismus kennen, aber dass ich sie nach Hause begleiten würde, wenn ihr das helfe, und dass ich mich einmal bei ihr umschauen würde.
    Oh ja, das würde helfen. Und immer wieder betonte sie, wie dankbar sie war.
    Ich sagte Geraldine im Büro Bescheid und begleitete Mrs Sanderson zu ihrem Haus. Es war eine Doppelhaushälfte aus der Vorkriegszeit, wie die meisten Häuser hier in der Gegend. Ziemlich stabil, überlegte ich. Außerdem fuhren auf dieser Straße eigentlich keine schweren Lastwagen. Im Haus roch es ein bisschen modrig, aber ich sagte nichts. Das ist oft so in den Wohnungen älterer Leute, die Fenster und Türen selten aufmachen - schließlich rät ihnen die Polizei ja immer, es nicht zu tun. Wegen der kleinen Gauner, die sich hereinschleichen und ihnen ihre Pension oder ihre Notgroschen stehlen könnten oder noch Schlimmeres. Manchmal möchte man sich schon fragen: In was für einer Welt leben wir eigentlich?
    Sie war nervös, deshalb bat ich sie, mir eine Tasse Tee zu kochen. Damit war sie mir auch aus dem Weg. Dann ging ich die Treppe hinauf ins Badezimmer, was leicht zu finden war, und schloss die Tür hinter mir. Ich setzte mich auf den Badewannenrand und sagte ruhig - keine Ahnung, warum: »Ist da jemand?«
    Natürlich kam keine Antwort. Wieso auch? Aber um des lieben Friedens willen sprach ich weiter. »Also, nur für den Fall, dass jemand zuhört, möchte ich dich darum bitten, Mrs Sanderson in Ruhe zu lassen. Sie hat dir nichts getan, also tu du bitte auch nichts, was sie ängstigt.« Warum hatte ich »bitte« gesagt? Ich weiß es nicht, es war nur so ein Gefühl, dass ein bisschen Höflichkeit nie schadet.
    Es kam keine Antwort. Natürlich. Deshalb wartete ich eine Weile, nur um Mrs Sanderson unten zu zeigen, dass ich mir Zeit nahm und mir Mühe gab, dann stand ich auf, um hinunterzugehen.
    Als ich die Tür hinter mir zuzog, blitzte etwas im Spiegel auf. Es war nur ein Aufblitzen, nichts Klares. Und eine Stimme. Eine leise Stimme. Aber eine Stimme. »In Ordnung, Rabbi«, sagte die Stimme. Ich machte die Tür schnell wieder auf, aber da war nichts zu sehen, nichts zu hören.
    Ich ging hinunter. Auf einmal kam mir eine Tasse Tee sehr verlockend vor. »Es wird ab jetzt wieder alles in Ordnung sein, Mrs Sanderson«, sagte ich.
    Das würde es doch auch, oder etwa nicht?

Der stille Maggid

    Eines Tages kam ein Prophet in unsere Stadt. Ich nehme an, dass er ein Prophet war - er sah ganz normal aus, und ich war noch jung, aber ich habe nie vergessen, was er tat, und für mich war und bleibt er ein Prophet.
    Er kam an einem Montag, nahm ein Zimmer in einem kleinen Hotel am Marktplatz und verkündete, dass er vorhabe, am kommenden Schabbat in unserer Synagoge zu predigen. Was für eine Aufregung er verursachte! Wir hatten keinen Rabbi, und wir bekamen auch nicht viele Besucher, deshalb war uns dieser Gastprediger alles andere als unwillkommen.
    Aber die Dinge blieben nicht so einfach. Am folgenden Tag kam eine Abordnung des Synagogenrats zu diesem Wanderprediger, diesem Maggid, zu meinem Propheten. Sie begrüßten ihn und hießen ihn willkommen. Dann fragten sie ihn, über welches Thema er predigen würde. Das wollte er ihnen jedoch nicht sagen.
    »Das kann ich nicht«, sagte er, »meine Worte

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