Auf das Leben
es nur daran, dass ich in all den Jahren so viele naive Auffassungen darüber gehört habe, was es bedeutet, eine Religion anzunehmen, die Religion zu ändern, eine Religion zu erwerben oder sogar eine Religion zu kaufen … Schließlich bin ich auch nur ein Mensch, nur ein einfacher Angestellter im Büro der Universalen Macht. Ich bin nicht Gott, ich bin kein Prophet und kein Professor, ich arbeite für eine Gemeinde und versuche herauszufinden, warum sich so viele Mitglieder nicht für ihre Religion interessieren - warum aber so viele Nichtmitglieder das tun. Es ist eine kühne Überlegung: Wäre die Gemeinde womöglich besser, wenn wir die Hälfte der Mitglieder, die nie kommen, hinauswerfen und nur solche als Mitglieder akzeptieren, die sich auch beteiligen? Man müsste es einmal ausprobieren … Jedenfalls teile ich mit vielen meiner Kollegen den Traum, dass wir eines Tages weniger Zeit mit Verwaltung verbringen müssen und dafür mehr predigen und lehren können. Stattdessen beschäftigen wir uns mit der Lösung interner Konflikte, hören höflich zu, mit einem festgefrorenen Lächeln im Gesicht, während Menschen, die nicht wissen, was sie sagen, mit uns sprechen, als wüssten wir nicht, was sie meinen, oder - was noch schlimmer ist - als täten wir es.
Also zurück zu dieser Dame. Sie ist zehn Jahre nach dem Ende des Holocaust geboren, aber noch immer von ihm geprägt. Geboren wurde sie hier, in Deutschland. Bedeutet das, sie ist getrieben von einer Mischung aus Schuldgefühlen und Wut und Distanzierung von der elterlichen oder nationalen Vergangenheit? Bedeutet das, sie hat internen Streit mit dieser oder jener Kirche? Wo endet die Vergangenheit, und wo beginnt die Gegenwart?
Doch während ich zuhöre, verschwinden einige der Zweifel und werden durch neue ersetzt. Diese Dame ist nicht labil - oberflächlich gesehen wenigstens nicht. Ich entdecke keine Anzeichen von Schizophrenie oder anderen Krankheiten, an die man denken könnte. Oh nein! Ihr Blick hat nichts Wahnsinniges, sie lächelt nicht irre, zuckt nicht, zappelt nicht herum. Sie ist auch nicht in sich zusammengesunken wie eine schwer Depressive, die nur ich, der Rabbi, mit meiner geheimnisvollen jüdischen Magie retten kann.
Wir können relativ schnell abklären, was sie nicht antreibt. Sie hat keinen jüdischen Freund. Auch keinen jüdischen Ehemann oder Liebhaber - weder männlich noch weiblich. Sie hat nicht vor, nach Israel auszuwandern. Sie ist nicht schwanger von irgendeinem israelischen Taxifahrer. Sie ist auch keine pietistische Protestantin, die den kleinen Jungen aus Nazaret am Kreuz angemessen verehren möchte. Sie war verheiratet, jetzt ist sie geschieden. Hat eine Tochter, die noch zur Schule geht.
Sie erzählt mir auch nicht, ihr Vater sei Jude gewesen oder der Vater ihrer Mutter oder der Nachbar ihres Cousins. Tatsächlich hatte sie bislang, wenigstens oberflächlich betrachtet, keinerlei Kontakt mit Juden oder dem Judentum gehabt. Doch das ist nur die Oberfläche.
Unter der Oberfläche ist alles komplizierter. Sie wuchs in einem kleinen Dorf auf, wo natürlich keine Juden mehr leben, aber sie hat immer gefühlt, dass sie nicht dazugehört. Dieses Gefühl kenne ich auch. Wer sonst würde Rabbiner werden? Spürt, dass sie irgendwo anders hingehört, dass sie Erinnerungen trägt, die nicht ihre eigenen sind. Sind diese Erinnerungen wirklich nicht ihre eigenen, oder doch?, fragt sie mich. Wer ist sie? Und wer bin ich, ihr das zu sagen?
Eines Tages, mit acht, sagte sie zu ihrer Mutter: »Mami, ich bin jüdisch.«
Die Mutter ließ den Teller fallen, den sie in der Hand hielt, und schrie sie an: »Sag so etwas nie wieder!«
Über dreißig Jahre später ist die Erinnerung an diesen Vorfall noch immer in ihr Gedächtnis eingebrannt. Warum hatte sie das gesagt? Sie weiß es nicht. Aber sie ist sich immer sicher gewesen, dass es stimmt. Und wohin hat das geführt? Nirgendwohin. Offenbar nirgendwohin. Aber tief in ihrem Inneren regen sich andere Erinnerungen. Sie summte eine Melodie. Eine Melodie, die sie kannte. Die sie aber noch nie gehört hatte. Eine Melodie, die niemand im Dorf je gehört hatte, eine Melodie, die nicht zu den Liedern auf dem Spielplatz passte. Erst Jahre später, viele Jahre, nachdem sie die Universität beendet hatte, hörte sie diese Melodie im Radio. Es war ein Lied. Ein jüdisches liturgisches Lied.
Ich beuge mich vor. Das hier läuft in eine ungewöhnliche Richtung. Glaube ich, was sie sagt? Das
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