Auf das Leben
überhaupt hören würdet. Und so sind wir also alle zufrieden. Schalom.«
Mit diesen Worten kehrte er zu seinem Platz zurück, griff nach seinem Gebetbuch und las weiter. Sein Auftritt war beendet. Und er sagte kein weiteres Wort außer »Schabbat Schalom« am Ende des Gottesdienstes. Er verbeugte sich, aber er akzeptierte keine Wohltat, keine Einladung zum Schabbatmahl; stattdessen ging er zurück zum Hotel, und als der Schabbat zu Ende war, verließ er die Stadt. Ich spielte draußen, ich war einer der wenigen, die ihn sahen, als er wegging.
Aber am nächsten Tag, in der nächsten Woche, entstand allerlei Durcheinander. Jeder wollte wissen, was der Maggid wirklich gesagt hatte. Jeder hatte eine andere Theorie, eine andere Meinung dazu.
Ein paar jüngere Männer meinten: »Er hat gesagt, wir sollen uns von der Unterdrückung befreien, damit wir endlich frei sprechen können.«
Andere sagten: »Er hat gesagt, wir sollen ins Heilige Land gehen, denn dort könnten wir frei sprechen.«
Einige sagten: »Er hat uns gelehrt, wie wichtig Bescheidenheit, Diskretion und Umsicht sind, besonders wenn die Polizei in der Nähe ist.«
Andere sagten: »Er hat den Reichen geraten, großzügig mit ihrem Reichtum zu sein, sonst würden sie alles verlieren.«
Und manche sagten: »Er hat die Armen davor gewarnt, neidisch zu sein; stattdessen sollen sie ihr Geschick demütig annehmen und still sein.«
Und wieder andere sagten: »Er hat uns ermahnt, von unserem Gott und unseren heiligen Lehren nicht abzulassen.«
Und manche sagten: »Er hat uns aufgefordert, unsere teuflischen Wege zu verlassen und unseren Frauen und Männern treu zu sein.« (Diese Worte wurden von einem Nicken in bestimmte Richtungen begleitet.)
Und ein ganzes Jahr lang, so schien es, ging kein Schabbat vorbei, ohne dass jemand diese bemerkenswerte Predigt erwähnte, diese Predigt, die keine Predigt war, diese Predigt, die jeden einzelnen Menschen mit seiner eigenen Stimme angesprochen hatte; das eigene Gewissen, die eigene Schwäche, die eigenen Träume, die eigenen Ängste …
Der Maggid kam niemals wieder in unsere Stadt, aber er hatte ein Zeichen gesetzt. Und nur ich weiß, was er wirklich gesagt hatte. Denn als er an jenem Samstagabend die Stadt verließ, winkte er mir zu und sagte …
Aber nein, das darf ich nicht erzählen. Darauf soll jeder selbst kommen …
Das verlorene Kind
Ich weiß, es ist eine Binsenweisheit, dass in jedem von uns ein Kind steckt. Aber was bedeutet das eigentlich? Wer ist dieses Kind? Und welche Beziehung hat es zu uns, den Erwachsenen?
Es begann wie eines der ganz gewöhnlichen Gespräche. Die Leute kommen ja mit ihren Fragen oder ihren Problemen ständig zu mir - das ist mein Alltag, und ich empfinde jede Frage und jedes Problem als Herausforderung. Diejenigen, die mit Antworten kommen oder glauben, die Wahrheit schon zu kennen, die einzige Wahrheit, diejenigen also, die kommen, um mir zu sagen, was ich zu tun und zu glauben hätte - die sind der sprichwörtliche Dorn im Auge, nicht nur für Rabbiner. Aber die anderen, die mit Fragen kommen … Nun, sogar wenn es sich oft um ähnliche Fragen handelt, ist doch jeder Fall anders, und man lernt, die Fragen hinter den Fragen zu entdecken und sogar die Fragen, die sich auch dahinter noch verbergen und - und man weiß nie auf Anhieb, welche Antwort man geben kann. Sogar nach so vielen Jahren.
Das macht die Arbeit mit Menschen ja auch so interessant. Manchmal frage ich mich, ob Gott das wohl auch so empfindet.
Wir sitzen also hier und kommen gleich zum Punkt. Diese Dame hat ein tiefes, brennendes Interesse daran, jüdisch zu werden. Was bedeutet das für sie? Ist es so, wie man Vegetarier wird oder wie man sich eine andere Staatsangehörigkeit zulegt? Heißt »jüdisch werden« so etwas wie Mutter werden? Was soll ich tun - einen Schlüssel herausholen und eine Tür aufschließen? Ihr ein Rezept für ein Fläschchen Pillen verschreiben, die sie jüdisch machen? Manche Leute scheinen wirklich zu glauben, dass man das so bewerkstelligen kann. »Geben Sie mir eine Dosis Judentum, bitte - eine Serie von Spritzen.« - »Könnte ich bitte ein Päckchen Judentum kaufen?« - »Könnte ich eine Fachzeitschrift abonnieren, die mich, wenn ich sie sorgfältig lese, dazu befähigt, ein guter Jude zu werden, genauso wie ich - mit anderen Magazinen - stricken oder ein Handwerk oder Bildhauerei lernen kann?«
Hört sich das zynisch an? Wenn es so ist, dann liegt
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