Auf das Leben
müssen allein von Gott kommen.«
Die Männer steckten die Köpfe zusammen (ich erfuhr es später von Chajmi Schumacher, dem Synagogendiener), und dann trafen sie eine Entscheidung. Der Gemeindevorsteher, Reb Levi, der Kürschner, teilte sie ihm mit: »In diesem Fall fürchten wir, dass wir Ihnen nicht erlauben können, in unserer Synagoge zu predigen. Wir wollen niemanden aufregen, vor allem nicht die Gojim.«
»Ich werde aber predigen«, sagte der Maggid.
Die Nachricht von diesem Gespräch verbreitete sich in Windeseile, und am nächsten Tag erschien eine Abordnung der örtlichen Händler im kleinen Hotelzimmer des Maggid. »Wir möchten nicht, dass unsere Geschäfte durch irgendetwas beeinträchtigt werden, was Sie sagen könnten«, erklärten sie. »Können Sie uns versichern, dass nichts, was Sie sagen, unsere harmonische Beziehung zu der restlichen Stadtbevölkerung und mit unseren christlichen Lieferanten und Kunden stört?«
»So etwas kann ich nicht tun«, sagte der Maggid. »Ich muss das predigen, was ich muss.«
Am nächsten Tag suchte ihn der Schullehrer auf. »Ich habe versucht, den Kindern, die meiner Obhut anvertraut sind, beizubringen, so gut wie möglich durch das Leben zu kommen«, sagte er. »Kann ich sicher sein, dass Sie nichts tun, das meinem Unterricht widerspricht oder meine Autorität untergräbt?«
»Das können Sie natürlich nicht«, sagte der Maggid. »Meine Predigt kommt aus meinem Herzen, von Gott. Was habe ich mit Ihrem Schulsystem und Ihren Kompromissen mit der Wahrheit zu tun?«
Am Donnerstag kam der Polizeichef. »Mir ist zu Ohren gekommen«, sagte er (ihm kam immer alles zu Ohren, früher oder später, weil er ein ganzes Netzwerks von Spionen in der Stadt hatte), »mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie Verrat und Volksverhetzung und Gewalt in unserer jüdischen Synagoge predigen wollen. Ist dem so? Wenn ja, muss ich Ihnen verbieten, überhaupt zu predigen, sonst werden Sie aus der Stadt gewiesen oder ins Gefängnis geworfen.«
»Ich werde keinen Verrat predigen«, sagte der Maggid, »aber ich werde sagen, was ich zu sagen habe, ohne Rücksicht auf die Konsequenzen. Die würde ich übrigens auch klaglos ertragen.«
Am nächsten Tag war Freitag, und alle waren mit den Vorbereitungen zum Schabbat zu beschäftigt, um mit dem heiligen Besucher zu diskutieren. Am Samstag war unsere kleine Synagoge jedoch zum Bersten voll. Ganz vorn, neben den Parnassim, saß der Polizeichef. Zwei andere Polizisten standen an der Tür. Die wichtigsten Kaufleute der Stadt, die sonst am Schabbat selten Zeit fanden, am Gottesdienst teilzunehmen, waren ebenfalls anwesend. Und der Lehrer und der Doktor und viele andere, die sonst keineswegs zu den regelmäßigen Gottesdienstbesuchern gehörten. Als der Moment gekommen war, stand der Maggid auf, um zu sprechen. Die Erregung, die Spannung, wuchs ins Ungeheure. Man hätte die Luft förmlich schneiden können …
Und was sagte er?
Nichts.
Genauso war es.
Nichts.
Er stand am Pult und packte es mit beiden Händen. Von Zeit zu Zeit löste er sie auch wieder, um sie zur Unterstreichung seiner Worte durch die Luft zu bewegen. Er öffnete den Mund und sprach lange. Doch er gab keinen Ton von sich. Nicht einmal ein Flüstern! Vielleicht hätten wir verstehen können, was er meinte, wenn wir ihm von den Lippen hätten lesen können. Aber sein Mienenspiel wechselte, er gestikulierte, er trat auf der kleinen Bima vor und wich wieder zurück, er erhob zweimal die geballten Hände, er schlug mit ihnen in die Luft. Es war, als wären wir alle taub.
Erst fingen einige an zu kichern, vielleicht aus Überraschung oder wegen des seltsamen Bilds von einem Mann, der lautlos sprach. Dann wurden einige unruhig und zappelig, doch je länger er sprach, umso ruhiger saßen alle da. Sie waren wie festgenagelt, jeder fühlte sich gezwungen, sitzen zu bleiben und zuzuhören, was der Maggid sagte - oder vielmehr nicht sagte …
Bis er den Bann brach. Es muss mindestens zwanzig oder dreißig Minuten gedauert haben, in denen er sich ständig bewegte, doch dann sprach er endlich laut. Er griff wieder nach dem Pult, schaute den Polizeichef an, die Parnassim, die Kaufleute, den Lehrer, und sagte Folgendes: »So habe ich also die Wünsche beider Seiten erfüllt, eure und meine. Ich habe gesagt, was ich sagen musste, weil ich wusste, dass ich es sagen muss. Und ihr habt gehört, was ihr hören wolltet, weil es nichts anderes gab, was ihr
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