Auf das Leben
rausgeschmissen. Jetzt sitzt er fast den ganzen Tag zu Hause herum. In seinen Zimmer. Will nicht sprechen. Ich habe nicht mehr die Kraft zu schreien.«
Mike schaute zu Boden, faltete die Hände. Das war ganz schön viel, was er da auf mich ablud. Darauf war ich psychisch nicht vorbereitet. »Und Sie?«, fragte ich.
»Und ich? Hach.« Es war eher ein Schnauben als ein Lachen. »Ich habe Schmerzen, ganz tief drin in meinem Innern, Rabbi. Schon seit einiger Zeit. Ich habe es immer auf den Stress geschoben. Ich meine, ich habe sogar darüber nachgedacht, auszuziehen, in ein Hotel oder so. Ich wäre nicht überrascht gewesen, wenn ich einen Herzanfall bekommen hätte, bei all dem, was ich durchmachen musste.«
»Das kann ich verstehen.«
»Das Leben hat es echt auf mich abgesehen. Es verpasst mir einen Tritt in den Arsch nach dem anderen. Das meine ich wörtlich, Rabbi, ehrlich. In den Arsch. Ich habe Darmkrebs. Die Schmerzen waren furchtbar, aber ich dachte, es wäre der Magen, ein Geschwür oder so etwas, und dann entdeckte ich eines Tages ein bisschen Blut. Ich habe gleich den Arzt angerufen und für heute einen Termin gemacht und … na ja, er hat gestochen und gewühlt und einen Abstrich genommen. Das Ergebnis der Biopsie kommt nächsten Montag, hat er gesagt. Als ich ihn nach der Wahrheit fragte, kam mir sein Gesichtsausdruck seltsam vor und - er schätzt, dass es stimmt und dass es ernst ist und dass es vermutlich weit fortgeschritten ist.«
Wieder entstand eine Pause.
»Ich bin daraufhin in ein Café gegangen, habe einen Tee getrunken und nachgedacht. Und dann bin ich hierhergekommen, Rabbi, genau so war es. Wenn es wirklich Krebs ist und er mir das am Montag mitteilt, werde ich mich umbringen. Erschrecken Sie bitte nicht - ich hatte einen Cousin, der an Darmkrebs litt, ich habe gesehen, was die Krankheit mit ihm gemacht hat, und das will ich auf keinen Fall erleben. Genau genommen hätte mir das eine Lehre sein müssen, dass ich mich früher hätte untersuchen lassen sollen. Aber das ist Schnee von gestern. Meine Geschäfte laufen ganz gut. Sie könnten besser gehen, aber auch schlechter, irgendwann in den letzten drei Stunden habe ich das Interesse daran verloren. Und dann habe ich gedacht, dass alles, was ich habe, meine Versicherung ist. Meine Lebensversicherung, Rabbi. Wenn ich sterbe, ist die Familie versorgt. Dafür habe ich gearbeitet, dafür habe ich bezahlt. Wenn ich mich umbringe, bezahlt die Versicherung allerdings nichts. So ist die Bestimmung.«
»Ja, ich glaube, eine solche Klausel ist üblich«, sagte ich. »Also gibt es einen guten Grund, es nicht zu tun.«
»Nein, Rabbi, Sie verstehen nicht - es ist der beste Grund, es doch zu tun«, sagte Mike und beugte sich vor. »Wenn ich Selbstmord begehe, wird meine Familie nichts bekommen. Weder mein betrügerisches Miststück von Ehefrau noch meine streunende Katze von Tochter noch mein fauler Gauner von Sohn. Warum sollten sie jetzt von meiner Versicherung profitieren? Sehen Sie es nicht ein, Rabbi, dass dies die beste Methode ist, ein bisschen Gerechtigkeit zu bekommen?«
»Gerechtigkeit?«, fragte ich. »Das klingt eher nach Rache.«
»Rache, Gerechtigkeit? Wo ist der Unterschied? Sie verdienen es nicht, auch nur einen Penny zu bekommen, und es gibt keine Möglichkeit, das Testament zu ändern - wir haben ein gemeinsames Testament, ein gemeinsames Konto, eine gemeinsame Police, alles, Rabbi. Ich habe diese Frau geliebt und ihr vertraut - das Haus, alles, was wir haben, ist unser gemeinsamer Besitz. Aber wir sprechen nicht mehr miteinander. Wir leben kaum noch zusammen. Alles, wofür ich gearbeitet habe, bricht um mich herum zusammen. Es ist nichts mehr wert. Nichts. Es ist Dreck. Sinnlos. Wertlos.«
Was sollte ich sagen? Nach allem, was er mir gerade erzählt hatte, hatte er recht. Aber ich konnte ihm doch nicht zustimmen, oder? »Ach, kommen Sie«, sagte ich deshalb, »es kann unmöglich alles so schlimm sein. Nach dieser Mitteilung stehen Sie jetzt unter Schock. Alle Kinder machen seltsame Phasen durch. Und in vielen Ehen gibt es Durststrecken. Bestimmt wollen Sie nicht, dass es noch schlimmer wird, wenn Sie erst …« Oh, verdammt, ich hätte diesen Satz nicht anfangen sollen, aber jetzt war es zu spät.
»Rabbi, es tut mir leid, aber Sie scheinen es nicht zu verstehen. Ich bin ein Jahr lang durch die Hölle gegangen. Und jetzt bin ich endgültig auf dem Weg zur Hölle. Warum sollten die Meinen nicht auch einen kleinen Vorgeschmack der
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