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Auf das Leben

Titel: Auf das Leben Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Walter Rothschild Oliver Weiss Mirjam Pressler
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zur Synagoge zu bringen. Hier gab es Rollen und Lastwagen und Hebeschlingen und Abstützungen auf Planken und ein Team aus doppelt so vielen Totengräbern wie üblich. Schließlich wurden die sterblichen Überreste von Florrie Sonderhaus in die Luft gewuchtet und sanft, man kann sogar sagen ehrfürchtig, in die Erde versenkt. Ich hoffe, die Totengräber haben einen Bonus bekommen - sie hatten sich ihn verdient.
    Aber wenn der Messias kommt und wir alle auferstehen - wer wird dann dafür sorgen, dass Florrie Sonderhaus auch wieder aus ihrem Grab herauskommt?

Ein anständiger Mann

    Man trifft nicht viele anständige Menschen. Ich meine, wirklich anständige. Es gibt viele, die sich anständig genug benehmen, damit sie nicht erwischt werden. Viele, die annehmen, dass ein bisschen Vom-Weg-Abkommen hier und da akzeptabel ist, und die sich sogar aufrichtig entrüsten, wenn jemand anderer Meinung ist. Aber ein wirklich anständiger Mann? Ich kann mich nur an einen gut erinnern.
     
     
    Es war an einem Dienstag im Frühling. Er kam ohne Anmeldung. Ich saß gerade über ein paar Briefen, die jedoch warten konnten. Er bat um ein Gespräch. Gut. Er war ein Gemeindemitglied - aber ich werde seinen Namen nicht verraten. Nennen wir ihn Mike. Die anderen Namen werde ich auch ändern. Ob es dazu dient, die Unschuldigen oder die Schuldigen zu schützen, entscheidet sich später. Er war keiner, mit dem ich vorher wirklich Umgang gehabt hatte. Nur ein Name auf der Mitgliederliste.
    Er fing unumwunden an zu sprechen: »Rabbi, ich brauche Ihren Rat. Ich möchte meine Versicherung nicht betrügen.«
    Ich saß da und fragte mich verwundert: Was ist los? Will er mich auf den Arm nehmen? Deshalb lächelte ich und sagte: »Sprechen Sie.«
    »Es ist so, Rabbi. Ich bin am Ende. Wirklich am Ende. Wenn ich Ihnen alles erzählen sollte, wüsste ich nicht, wo ich anfangen sollte, also lassen Sie mich damit beginnen: Ich sterbe. Ich weiß es. Der Arzt hat es mir heute Morgen mitgeteilt. Sagen Sie nichts - ich bin noch nicht fertig. Ich habe gerade erst angefangen.
    Mein Leben lang habe ich schwer gearbeitet. Ich musste viele Rückschläge einstecken - solche, wie man sie in jedem Geschäft erlebt, natürlich, aber einige waren schlimmer als andere. Ob nun das Lagerhaus abbrannte oder einer unserer Hauptkunden Bankrott machte und mich auf dem Trockenen sitzen ließ, ich habe alles schon einmal erlebt - und die ganze Zeit gewusst, dass es sich lohnt, wenn es nur meiner Frau und meinen Kindern gut geht. Für sie habe ich gearbeitet. Ich habe sie geliebt, sie waren der Sinn meines Lebens. Und jetzt …«
    Es entstand eine lange Pause, aber ich sah keinen Grund, ihn zu unterbrechen. Ich hatte Zeit. Vielleicht mehr als Mike.
    »Und dann ist alles auseinandergebrochen«, fuhr er fort. »Vor ungefähr einem Jahr fing es an. Ich fand heraus, dass Caroline eine Affäre hat. Mit meinem Geschäftspartner. So ein blödes Klischee, Rabbi, aber es stimmt. Ich kam früh von einer Messe in Mailand zurück und - na ja, es war mehr als peinlich. Viel, viel schlimmer. Sie lebt jetzt die Hälfte der Zeit bei ihm.
    Und dann wurde Abigail zur Punkerin. Zu einer richtigen. Sie ist weggegangen, hat ihr Zuhause verlassen - ich nehme an, unsere Auseinandersetzungen haben ihr diese Entscheidung leichtgemacht -, und jetzt lebt sie irgendwo in Cardiff, glaube ich, aber wir wissen nicht genau, wo. Wir haben seit über zwei Monaten nichts von ihr gehört. Sie hatte einen Freund - oder mehrere. Ich habe versucht, vernünftig mit ihr zu reden, aber sie hat mich einfach angespuckt - hören Sie, Rabbi, sie hat mich angespuckt! - und ist weggelaufen, und als ich am nächsten Tag nach Hause kam, war sie verschwunden. Sie hat eine Nachricht hinterlassen, und das war’s. Ich meine, sie ist erwachsen, sie hat ihr eigenes Bankkonto, ihre eigene Bahnkarte - aber sie war mein kleines Mädchen, Rabbi, sie war meine Kleine. Für sie habe ich mich krumm gearbeitet, und von jedem verdammten Flughafen habe ich ihr Puppen mitgebracht.
    Matthew - das war der nächste Schlag. Er war auch seit längerem komisch gewesen, aber ich habe es dem Stress zugeschrieben. In den letzten Monaten war es bei uns nicht besonders lustig gewesen. Vor drei Wochen hatten wir dann aber die Polizei im Haus. Er scheint mit Drogen gehandelt zu haben. Vor allem mit Tabletten. In der Schule. Er ist erst fünfzehn, deshalb ist noch nicht entschieden, wie man ihn bestrafen wird. Aber die Schule hat ihn natürlich

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