Auf das Leben
muss ich jedes Mal neu und individuell entscheiden. Üblicherweise gibt es keine Beweise für das, was mir jemand erzählt - und üblicherweise gibt es keine Beweise für das, was ich selbst erzähle. Nicht jeder läuft mit einem Aktenordner voller Beweise herum, wo seine Urgroßmutter begraben liegt. Nicht jeder kann ein Video aus seiner Kindheit vorzeigen. Alles ist eine Sache des Glaubens, des Vertrauens, des Akzeptierens - oder auch nicht. Wie kann ich ein Déjà-vu erklären? Wer kann eine plötzliche Eingebung erklären? Wer kann Träume und Albträume erklären?
Ich bin eine moderne Person. Ich arbeite in einer alten Tradition. Ständig im Konflikt zwischen beidem: zwischen den Bedürfnissen einer modernen Gesellschaft und den Forderungen einer alten; zwischen uralten Texten, die von Sklaven und Opferungen sprechen, und modernen Zeiten, in denen - nun ja, Selbstversklavung und Selbstaufgabe üblich sind. Wo gibt es Verbindungen, und wo gibt es keine? Wie kann man Vergangenheit und Gegenwart versöhnen?
Moderne Menschen haben gelernt, dass Träume die Verarbeitung unserer individuellen Vergangenheit sind. Es spielt keine Rolle, ob man Freud gelesen hat oder nicht, es spielt keine Rolle, ob man mit ihm übereinstimmt oder nicht. Es ist etwas, was wir gelernt haben, was wir verinnerlicht haben. Im Schlaf träumen wir, und im Traum verarbeiten wir, was wir erlebt haben. Andererseits müssen wir uns jedoch eingestehen, dass sich nicht alles wissenschaftlich erklären lässt. Es lässt sich nicht erklären, dass wir im Traum Orte besuchen, an denen wir nie zuvor gewesen sind, dass wir Menschen von früher treffen, die wir nie getroffen haben. Die Menschen verstanden Träume ganz anders - sie bezogen sie nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft. Träume kamen nicht von innen, sondern von außen. Aber - von welchem Außen? Und zu welchem Zweck? Anders gefragt: Hat der Traum etwas mit der nahen oder der fernen Zukunft zu tun? Oder gar mit der Gegenwart? Wie oft habe ich verzweifelt nach einem Gleichnis gesucht und aus tiefstem Herzen trauernden Hinterbliebenen erklärt, dass Totsein wie Schlafen ist? Dann wäre umgekehrt Schlafen wie Totsein. Damit wäre belegt, dass wir zu Dimensionen Zugang haben, die sich von unserem Alltag unterscheiden.
Wer träumt hier also? Was passiert im Kopf dieser Dame? Was gab ihr den Impuls, die Telefonnummer der Synagoge herauszusuchen, was gab ihr den Mut, mich anzurufen - einen vollkommen fremden Menschen -, um mir von ihrer Kindheit zu erzählen, von ihren Ängsten, ihren Träumen und Albträumen? Warum vertraut sie mir das alles an? Und - vertraue ich ihr?
Langsam gehen wir weiter, sehr langsam. Ich gestatte ihr lange Pausen. Ich brauche die Zeit für mich selbst, um zu verdauen, was noch kommen wird. Sie habe sich immer »jüdisch gefühlt«, könne diese Gefühle aber nicht beschreiben. Nun gut, das kann keiner. Es ist ein Gefühl, eine Wahrnehmung, es ist etwas tief drinnen, aber wenn ich anstelle dieser Dame wäre und mit einem Rabbi spräche, wie würde ich es dann beschreiben?
Die ganzen Jahre. Die erwachenden Erinnerungen. Aber in verschiedenen Altersstufen. Das Bewusstsein, dass es da noch jemand anderen gibt. Jemanden, sagt sie, der jemand anders ist als der unsichtbare Freund, den sich Kinder immer so gerne vorstellen. Jemanden, mit dem sie einen immer wiederkehrender Albtraum verbindet: Sie ist ein Kind in einem Zug, in einem dunklen, kalten Zug. Sie ist ein kleines Kind, allein und verängstigt. In ihren Armen liegt ein anderes Kind - kein Bruder, keine Schwester, einfach ein anderes Kind -, ebenfalls allein und verängstigt. Wo ihre Familien sind? Wer weiß das schon. Ihre Familien sind nicht da. Ihre Familien sind weg. Und sie und dieses andere Kind fahren auf etwas zu, das sie nicht kennen, aber sie wissen, dass es etwas Schlimmes ist. Sie fühlen , dass es etwas Schlimmes ist. Sie haben Angst zu sterben. Sie haben große Angst. Panik. Sie weinen miteinander. Sie weinen …
Und dann wacht sie auf. Jedes Mal. Weinend. Da sind Tränen, ein nasses Kissen. Schrecken. Das tiefe Gefühl eines Verlusts, eines großen Kummers. Ein Gefühl von Alleinsein. die Gewissheit, jüdisch zu sein.
Ich antworte nicht. Ich kann nicht antworten. Ich treibe am Rand meiner eigenen Rationalität. Ich frage mich, ob das Telefon auf meinem Tisch wohl gleich läutet. Ich hoffe, dass es läutet. Ich hoffe, es wird nicht läuten. Und ich frage mich, ob ich
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