Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
Solche Diskussionen sind anstrengend, weil natürlich die Experten mit Faktenwissen um sich werfen können wie die Advokaten eines Großkonzerns mit Paragrafen, wenn Sie sich mit diesem anlegen. Als tragendes Argument hört man aber nach wie vor, in der gesamten Community seien die Oszillationen längst etabliert, und die Vielzahl der darauf hindeutenden Experimente liefere einen erdrückenden Indizienbeweis, bestehend aus ‚clues‘ und ‚smoking guns‘. Schall und Rauch, möchte man sagen.
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Daher, wenn man schon den Dogmatiker mit zehn Beweisen auftreten sieht, da kann man sicher glauben, dass er gar keinen habe. – Immanuel Kant
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Auf Zweifel am vorliegenden ‚Indizienbeweis‘ für Neutrino-Oszillationen reagieren manche Neutrinophysiker geradezu hysterisch. Einer beschuldigte mich einmal, ich feuere oberflächliche Breitseiten gegen ein anerkanntes Forschungsgebiet ab. Darin steckt ein Korn Wahrheit, denn es ist nicht leicht, Hunderte von verstreuten Veröffentlichungen qualifiziert zu kritisieren. Aber muss uns nicht die objektive Komplizierung der Situation Mahnung genug sein zur Skepsis? Zeigt nicht die Wissenschaftsgeschichte, dass Irrtümer sich über Generationen von Forschern fortgepflanzt haben? Haben nicht andere Wissenschaftler längst gezeigt, dass psychologische und soziologische Erwartungshaltungen einen höchst realen Einfluss haben auf das, was als physikalische Tatsache anerkannt wird? Solche Breitseiten treffen natürlich dann besonders, wenn die eigene Spur schmal ist.
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Ich finde meine Suppe versalzen: Darf ich sie nicht eher versalzen nennen, als bis ich selbst kochen darf? – Gotthold Ephraim Lessing
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Ein Kollege des Experten wiederum versicherte mir, er könne ja meine Skepsis gegenüber den Fantasien der Stringtheoretiker verstehen, die Neutrinophysik sei jedoch ein gut überprüftes, gesundes Gebiet. Wie es dort zugeht, konnte man zum Beispiel auf der Konferenz Topics in Astroparticle and Underground Physics 2011 sehen: Weil man wieder mal die Widersprüche schlecht anders erklären kann, bringt man die nächsten freien Parameter schon in Wartestellung: Ein ‚steriles‘ Neutrino, am besten zwei davon, und eventuell noch eine ‚non-standard-interaction‘, was auch immer das sein soll. Wie eine Vortragende von der Universität Yale sagte, sei jedenfalls all dies beyond the standard model , zu Deutsch Unverstandenes, sehr spannend, und wenn man dann trotz zahlloser Hilfsannahmen immer noch auf Widersprüche stößt, genannt new physics , dann sei dies fun . Die Neutrinophysik ist krank.
KONSTRUKTIVES
Da Wahrheitsfindung in der Physik letztlich nicht aus Diskussionen besteht – und ich mag auch noch als derjenige erscheinen, der sie anzettelt –, will ich an dieser Stelle schon einen konkreten Vorschlag andeuten. Auch wenn die große Mehrheit der Physiker sorgfältig und besonnen arbeitet, ist es doch eine inhärente Bevormundung, wenn alle außerhalb der jeweils spezialisierten Community ihr Wissen auf Hörensagen gründen müssen. Denn es kann nicht sein, dass Fundamente der Physik auf die Korrektheit von nicht wiederholten, fünfzig Jahre alten Experimenten vertrauen – ohne diese Leistungen schmälern zu wollen. Jener kreativen Pionierzeit verdankt die Physik außergewöhnliche Ergebnisse. Heute, wo der technische Aufwand Grenzen setzt und gleichzeitig der Einzelne nichts mehr überblicken kann, muss man alle entscheidenden Experimente unabhängig reproduzieren und Rohdaten nebst Auswertungen offenlegen. Es geht nicht an, dass die Qualität eines Antikoinzidenzzählers von denen geprüft wird, die ein Interesse an der Glaubwürdigkeit seiner Daten haben. Nicht der Händler eicht die Waage, sondern der TÜV. Daher dürfen nicht die Kollaborationen allein die Methoden der Auswertung bestimmen, sondern jeder Wissenschaftler sollte diese selbst wählen können. Offenes Wissen ist die große Chance unserer Zeit – wird sie nicht genutzt, kann man die weitere Entwicklung schon absehen: Die vor der Tür stehenden Widersprüche wird man demnächst mit ‚sterilen‘ Neutrinos lösen, wahrscheinlich bis zu drei Stück, begleitet von neuen Zahlen in Form von Mischungswinkeln, mit denen man das Unverständnis noch eine Zeit lang einkleiden kann.
Aber die ganze Neutrinophysik hat sich längst in einen Knoten verstrickt, der nicht mehr aufzuknüpfen ist. Neutrinos als Teilchen ‚existieren‘ wahrscheinlich so, wie Planetenbahnen Kreise um die Erde sind: Sie sind
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