Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
einer Konferenz über Neutrinos in München. Er habe das Ergebnis zuerst rundweg nicht geglaubt, erst nach eingehendem Studium aller Auswertungen habe er sich davon überzeugt. Vielleicht hat er ja recht. Vielleicht hatte er aber auch anfangs recht. Denn das Problem ist, dass niemand die Computersimulationen der atmosphärischen Neutrinoschauer wirklich überprüfen kann, von deren Korrektheit die Behauptung entscheidend abhängt. Auch hier hilft nur eines weiter: mehr Transparenz.
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Wissenschaftliche Gemeinden tendieren dazu, Daten auszusondern, die ihren Überzeugungen widersprechen. – Andrew Pickering
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Bin ich hier zu skeptisch? Aber man muss auch an den Ergebnissen von Wissenschaftlern noch zweifeln dürfen, deren Sorgfalt man grundsätzlich anerkennt. Oder ist so ein Zweifel aus der Distanz zu billig? Das Zweifeln unglaublich teuer gemacht haben aber doch erst die modernen Großexperimente: Wir müssen heute den Ergebnissen vertrauen, ohne sie nachvollziehen zu können. Der Wissenschaft tut man damit keinen Gefallen. Diese kann ihr Abenteuer nur bestehen, wenn alle noch so vertrauenerweckenden Ergebnisse auch durchschaubar bleiben.
ZWÖLF GUTE, ELF SCHLECHTE
Viele Experimente der Neutrinophysik scheinen zwar die bisherigen Resultate zu wiederholen, aber inzwischen bedient man sich ziemlich vieler Teilchen zu ihrer Interpretation. Wissenschaftstheoretisch handelt es sich bei den Teilcheneigenschaften um freie Parameter, deren gehäuftes Auftreten ein Krankheitssymptom ist, weil die damit gestrickten Erklärungen willkürlich werden. Dazu kommt, dass sich die Experimente auf immer winzigere Ausschnitte der realen Welt konzentrieren: So basieren zum Beispiel fast alle Untersuchungen zu solaren Neutrinos, für die der Kamiokande-Detektor auch bekannt geworden ist, auf einer sehr seltenen Kernreaktion im Inneren der Sonne, deren Häufigkeit auch noch besonders unsicher ist, weil sie extrem von der Temperatur abhängt. Nur die energiereichen Neutrinos dieser Reaktion sind aber vor dem Hintergrundrauschen überhaupt zu erkennen.
Als Erster überhaupt hatte der Neutrino-Pionier Raymond Davis im Jahr 1967 nach solaren Neutrinos gesucht: Er fand sehr viel weniger, als vorhergesagt worden waren, obwohl der Theoretiker John Bahcall die Modelle mehrmals nachjustierte, um die enttäuschenden Ergebnisse zu rechtfertigen. 156 Als auch das nicht mehr half, besann er sich eines Besseren und machte das ‚solare Neutrinoproblem‘ weithin publik, was seine Karriere mehr beförderte als das Modellieren. Der dadurch allseits bekannte Mangel an Neutrinos führte schließlich zu der Idee, die Teilchen könnten sich in eine weniger gut sichtbare Sorte umgewandelt haben. Seither wünscht man sich Neutrino-Oszillationen.
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Je nach Standpunkt, handelte es sich um einen ernsten Widerspruch oder um eine große Entdeckung. – Andrew Pickering
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Der dabei erfolgreiche Kamiokande-Detektor war übrigens gar nicht für Neutrinos gebaut worden. [54] Eine unerwartete Aufmerksamkeit erfuhr er aber im Februar 1987, als eine Supernovaexplosion in der großen Magellanschen Wolke einen gewaltigen Neutrinoschauer auf der Erde erwarten ließ. Von der Entwicklung überrascht – Kamiokande hatte nicht einmal eine genaue Uhr zur Verfügung –, ordnete man von zehn Billiarden Teilchen, die durch den Detektor gingen, schließlich zwölf Ereignisse [55] dem Ausbruch zu. Gute Filter! Zum Nobelpreis 2002 reichte aus, dass vier davon ungefähr aus der Richtung der Begleitgalaxie kamen. 157 Und die guten Filter kamen auch gerade rechtzeitig, denn die erforderliche Genauigkeit, so die nachträgliche Analyse, war just einen Monat vor der Explosion erreicht worden. 158 Sicherlich auch gutes Timing.
Wenn dagegen Ergebnisse nicht so erwünscht, sondern überraschend sind, stoßen sie regelmäßig auf Skepsis – insbesondere, wenn sie an einem bekannten Konzept kratzen. Ein Beispiel dafür sind Hinweise auf einen doppelten Betazerfall, bei dem keine Neutrinos erzeugt werden. 159 Die geringe Zahl von elf Ereignissen wird hier kritisiert, obwohl dies sonst nie jemanden gestört hat. Sollten sich die erstaunlichen Resultate als richtig herausstellen, müsste man praktisch alle anderen Neutrino-Experimente neu analysieren – eine Vorstellung, die wohl nur wenigen sympathisch ist. Ein neues Experiment, GERDA, soll Klarheit bringen, aber wenn man die Beteiligten sprechen hört, scheinen sie ausnahmsweise eher vom Ehrgeiz beflügelt, nichts zu
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