Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
Neutrinos, die den Detektor passiert hatten, schafften es, die Welt von ihrer Existenz zu überzeugen.
Reicht das, um alle Zweifel auszuräumen? Letztlich wies man Myonen nach, also genau jene Teilchen, von denen Unmengen in dem Strahl des Beschleunigers enthalten waren, der auf den Detektor gerichtet war. Wenn die Decke nach einem Wolkenbruch feucht wird, gerät da nicht doch zunächst der Dachdecker unter Verdacht, trotz aller Beteuerung fachgerechter Abschirmung? Was waren die Kriterien, mit denen man auf einer Fotoplatte zwischen einem neugeborenen Myon und einem Eindringling unterschied? Könnte ein Computer diese Kriterien umsetzen? Mit welcher Sicherheit waren es nur 400 Spuren der unerwünschten Höhenstrahlung und nicht mehr?
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Nichts ist so schwer, als sich nicht zu betrügen. – Ludwig Wittgenstein
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Die über 2500 schwarzen Fotografien interpretierte man als von Neutronen verursacht, aber wie kann man ausschließen, dass sie von unentdeckten Fehlern der hier entscheidenden Auslöseelektronik herrührten? Denn vorhergesagt war dies nicht. Eine Filterung, die beansprucht, einzelne Teilchen aus Billionen zuverlässig zu identifizieren, kann nicht auf im Nachhinein definierten, letztlich improvisierten Regeln beruhen. Die große Gefahr liegt hier, wie Andrew Pickering es formuliert, in der Anpassung der experimentellen Methoden und Auswertungskriterien im Hinblick auf den Nachweis des gewünschten Signals. Kurz: Man kann sich sehr leicht selbst foppen. Es ist unerlässlich, dass solche Experimente wiederholt und die Rohdaten frei verfügbar werden.
RITT NACH WESTEN UND DURCHBRUCH DURCH DIE ERDE
Das alles bedeutet nicht, dass die Resultate – von den Autoren damals übrigens als „wahrscheinlichste Erklärung“ bezeichnet 154 – falsch sein müssen. Niemand bestreitet, dass die Entdecker nach bestem Wissen und Gewissen gearbeitet haben. Leon Lederman ist ein begnadeter Experimentator, und sein Buch The God Particle verschafft einen äußerst witzigen Einblick in die Hochenergiephysik. Als die Reagan-Administration über einen neuen Superbeschleuniger zu entscheiden hatte, bat man Lederman – er hatte für das geschilderte Neutrinoexperiment 1988 den Nobelpreis erhalten – um eine kurze Botschaft, die dem Weißen Haus die Notwendigkeit des Beschleunigers klarmachen sollte. „Wie erklärt man Teilchenphysik einem Präsidenten in zehn Minuten? … und vor allem: Wie erklärt man sie diesem Präsidenten?“, fragte sich Lederman öffentlich. Sein Enthusiasmus für die später vom Kongress gestrichene Supermaschine offenbarte eine gute Portion Naivität bezüglich der Hoffnungen der theoretischen Teilchenphysik, und so verglich er in seiner Botschaft an Reagan den Superbeschleuniger mit einem Cowboy auf Entdeckungsreise, allein, nach Westen … Bei einem Adressaten, für den Laub Umweltverschmutzung war, sei es ihm verziehen. Amüsant ist auch Ledermans beißende Kritik, mit der er als gestandener Experimentalphysiker die Stringtheorie durch den Kakao zieht. Lederman ist ein Pionier der Beschleunigerexperimente und einer der kreativsten Physiker der Nachkriegszeit – vieles baut auf seinen Entdeckungen auf. Aber es ist durchaus möglich, dass seine Lebensleistung dazu beitrug, die Physik in die Irre zu führen.
Eine Parallele zu Ledermans Experiment zeigen die Resultate des Kamiokande-Detektors, der in einer stillgelegten japanischen Zinkmine nach Neutrinos fahndete: Hier kamen mehr Myon-Neutrinos als erwartet aus der Richtung der Atmosphäre, und zufälligerweise wird diese auch permanent mit schnellen Protonen aus dem Kosmos bombardiert, woraus massenweise Myonen entstehen. Einen Zusammenhang zwischen diesen Myonen und dem beobachteten Überschuss verneinte man aber, [53] der Detektor sei nach oben perfekt gegen Myonen abgedichtet. Durch die Gesteinsschicht oberhalb der Mine, vor allem aber durch Antikoinzidenzzähler und Computersimulationen seien die unerwünschten Signale von oben herausgefiltert. Diese gängige Interpretation muss man sich auf der Zunge zergehen lassen: Die atmosphärischen Myon-Neutrinos, die, den Globus durchdringend, von unten in den japanischen Detektor eintreten, hätten sich inzwischen in Elektron-Neutrinos umgewandelt und seien deswegen weniger zahlreich als die von oben kommenden. 155 Das Resultat galt als erste gute Evidenz, als ‚Durchbruch‘ für Neutrino-Oszillationen. Aufschlussreich fand ich dazu eine Bemerkung von Hitoshi Murayama, dem Schlussredner
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