Auf dem Holzweg durchs Universum: Warum sich die Physik verlaufen hat (German Edition)
ursprünglichen Richtung stark abgelenkt, man sagt ‚gestreut‘ wurden. Diese elastische Streuung von Projektilen, meist Elektronen, ist bis heute die gängige Methode, um die Struktur von Elementarteilchen zu untersuchen. Man provoziert dabei keine Reaktionen, die neue Teilchen erzeugen, sondern gibt sich damit zufrieden, genau zu messen, wie das beschleunigte Projektil von dem Ziel (Target), meist einem Atomkern, abgelenkt wird. Da hier die elektrische Kraft wirkt, hängt die Verteilung der elektrischen Ladung im Target nur vom Ablenkwinkel ab, den man präzise bestimmen kann. Robert Hofstadter erhielt 1961 den Nobelpreis, weil er auf diese Weise das Proton in einem Beschleuniger unter die Lupe genommen hatte. Diese ‚Formfaktor‘ genannte Ladungsverteilung ist seither immer genauer bestimmt worden, und sogar im Neutron zeigten sich Ladungen, die lediglich in der Summe null ergaben.
Wirklich durchschauen tun wir die Elementarteilchen dabei nicht, denn ‚Ladungsverteilung‘ ist ein klassisch-anschaulicher Begriff, den schon Erwin Schrödinger erfolglos zu retten versucht hatte: Zwar sind Elektronen durch ihre Wellennatur ausgedehnt, treten als Teilchen aber trotzdem punktförmig in Erscheinung. Daher ist es nicht verwunderlich, dass Messungen zur Ladungsverteilung immer wieder auf Widersprüche stoßen – so scheint das Neutron bei höheren Geschwindigkeiten seine Ladungen von innen nach außen umzuschichten. 171 Berechnen lässt sich die Ladungsverteilung von Elementarteilchen ohnehin nicht, weil dazu eine Vorstellung fehlt, die der Quantenmechanik Rechnung trägt – man müsste sie erst einmal verstehen. So hat sich auch hier die Physik in einer Übersprungshandlung von Messungen verloren, für die neue Ideen nicht unbedingt notwendig sind.
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Ein stark beschäftigter Mensch ändert seine Anschauungen selten. – Friedrich Nietzsche
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HOCHENERGETISCH, NICHT HOCHGEISTIG
Mitte der 1960er Jahre waren den Physikern Kendall, Friedmann und Taylor die Formfaktoren nicht mehr überraschend genug, und sie kamen auf eine ganz neue Idee: Man könnte noch höhere Energien verwenden. Diese sogenannte inelastische Streuung führte – zwar auch nicht überraschend – dazu, dass beim Stoßprozess aus der überschüssigen Energie neue Teilchen entstanden, und zwar eine recht unübersichtliche Menge. David Lindley, langjähriger Editor von Nature , schrieb darüber: 172
„Die damalige Ansicht war, dass inelastische Streuung ein Durcheinander von Bruchstücken erzeugte, das zu komplex war, um Licht auf die innere Struktur des Protons zu werfen, wenn es überhaupt eine solche gab … Inelastische Streuung galt bestenfalls als hochspekulativ, schlimmstenfalls als eine Verschwendung von Strahlzeit am Beschleuniger.“
Während Hofstadter aus diesen Gründen aus dem Programm ausstieg, fanden Kendall, Friedmann und Taylor einen Ausweg: Sie schauten nicht so genau hin. Während man meinen möchte, dass bei einer sorgfältigen Analyse alle produzierten Teilchen eines Experiments betrachtet werden, interessierten sie sich hier nur für die Reaktionswahrscheinlichkeit, und der Rest, also die Daten der neuen Teilchen, wurde weggeworfen. In dieser bereinigten Sicht der Dinge war es dann auch einfacher, ein wenig Statistik zu machen. Dass dabei irgendwelche Regelmäßigkeiten auftraten, ist auch nicht wirklich sensationell, andernfalls wäre das Experiment schließlich ein Zufallszahlengenerator. Lindley kommentierte:
„Inelastische Streuung erzeugte wie erwartet ein Durcheinander von Teilchen, und Kendall, Friedmann und Taylor gelang es zu zeigen, dass sich dessen statistische Eigenschaften bei höheren Energien in relativ einfacher Weise benehmen.“
1990 erhielten sie dafür den Nobelpreis. Lernen konnte man aber aus diesen Versuchen eigentlich nichts, dazu ist der Stoßprozess schon theoretisch zu wenig verstanden. „Komplex“ seien die Rechnungen zur Strahlungskorrektur gewesen, wie Taylor schreibt, 173 nur eines waren sie sicher nicht: richtig. Denn eine vollständige Theorie darüber, wie Ladungen in starken Feldern elektromagnetische Wellen abstrahlen – denken Sie an den dritten Abschnitt –, gibt es nicht.
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Er gebrauchte Statistik wie ein Betrunkener die Laterne – mehr zum Halt als zur Erhellung. – Andrew Lang, schottischer Dichter
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HÖHERE ORDNUNG? HEILENDE MUSTER
Die Anzahl der bis zu den 1960er Jahren produzierten Elementarteilchen begann schließlich doch einige Physiker zu
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