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Auf dem Jakobsweg

Auf dem Jakobsweg

Titel: Auf dem Jakobsweg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paolo Coelho
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nennen.«
Als die Sonne etwas milder geworden war, nahmen wir unsere Wanderung wieder auf. Die Rota Jacobea verlief durch einige Weinberge und bestellte Felder, die um diese Tageszeit menschenleer dalagen. Wir kreuzten die Hauptstraße, die ebenfalls verlassen war, und kehrten in den Wald zurück. In der Ferne konnte man den Pico de San Lorenzo sehen, den höchsten Punkt Kastiliens. Seit ich Petrus in der Nähe von Saint-Jean-Pied-de-Port zum ersten Mal begegnet war, hatte sich in mir viel verändert. Brasilien, die unerledigten Geschäfte, alles dies war fast vollständig aus meinem Kopf verschwunden. Das einzige Lebendige war mein Ziel, über das ich jede Nacht mit Astrain sprach, der jedesmal deutlicher in Erscheinung trat. Es gelang mir, ihn immer neben mir sitzend zu sehen, ich bemerkte, daß er im rechten Auge einen nervösen Tick hatte und immer lächelte, wenn ich Dinge wiederholte, die er gesagt hatte, um mich zu vergewissern, daß ich ihn verstanden hatte. Vor ein paar Wochen, vor allem in den ersten Tagen der Wanderung, hatte ich manchmal befürchtet, den Weg nicht zu Ende gehen zu können. Als wir durch Roncesvalles kamen, war ich der ganzen Sache überdrüssig gewesen und hatte nur gewünscht, schnell in Santiago anzukommen, mein Schwert wiederzubekommen, um dann wieder den Kampf aufzunehmen, den Petrus (den heiligen Paulus zitierend) den guten Kampf nannte. Doch jetzt war alles, was mich an die Zivilisation band und was ich zuerst widerwillig aufgegeben hatte, so gut wie vergessen. In diesem Augenblick waren für mich nur die Sonne über mir wichtig und die Vorfreude auf Agape.
Wir stiegen in eine Schlucht hinunter, überquerten einen Bach und keuchten auf der anderen Seite wieder hinauf. Dieser Bach mußte einstmals ein wilder Fluß gewesen sein, der sich brodelnd in die Erde und deren Geheimnisse gegraben hatte. Jetzt war er nur noch ein Bach, den man zu Fuß durchqueren konnte. Doch sein Werk, das tiefe Tal, das er gegraben hatte, gab es noch, und es zu bezwingen kostete mich große Mühen. Wie hatte Petrus doch gesagt: »Alles im Leben ist von kurzer Dauer.«
»Petrus, hast du schon viel geliebt?«
Diese Frage war mir ganz spontan entschlüpft, und ich war selbst über meinen Mut überrascht. Bis zu diesem Augenblick wußte ich nur das Allernotwendigste über das Privatleben meines Führers.
»Ich hatte schon viele Frauen, wenn du das damit meinst. Und ich habe jede einzelne sehr geliebt. Doch Agape habe ich nur bei zweien gefühlt.«
Ich erzählte ihm, daß auch ich viel geliebt habe und allmählich besorgt darüber sei, daß ich mich an niemanden binden könne. Wenn das so weiterginge, stünde mir ein einsames Alter bevor, und davor hätte ich große Angst.
»Ich würde eine Krankenschwester engagieren«, lachte er. »Aber glaube nicht, daß du auf ein geruhsames Rentenalter zusteuerst.«
Es war fast neun Uhr, als es dämmerte. Die Weinberge lagen hinter uns, und wir befanden uns in einer wüstenähnlichen Landschaft. Ich blickte um mich und konnte in der Ferne eine kleine, in den Fels gebaute Einsiedelei erkennen, die denen glich, die wir auf unserem Wege schon gesehen hatten. Wir gingen noch etwas weiter und verließen dann die gelbmarkierte Strecke, um direkt auf das kleine Gebäude zuzugehen. Als wir nahe genug heran waren, rief Petrus einen Namen, den ich nicht verstand, und blieb, auf die Antwort wartend, stehen. Obwohl wir die Ohren gespitzt hatten, hörten wir nichts. Petrus rief noch einmal, aber niemand antwortete.
»Laß uns trotzdem gehen«, sagte er. Und wir trabten los. Es waren nur vier weißgekalkte Wände. Die Tür stand offen, oder besser gesagt, es gab gar keine Tür, sondern nur eine etwa einen halben Meter hohe Pforte, die unsicher an einer Angel hing. Drinnen gab es einen aus Steinen gebauten Ofen und einige sorgfältig auf dem Boden ineinandergestellte Schüsseln. Zwei davon waren voller Weizen und Kartoffeln. Wir setzten uns schweigend. Petrus zündete sich eine Zigarette an und meinte, wir sollten noch etwas warten. Meine Beine schmerzten vor Müdigkeit, doch irgend etwas in dieser Einsiedelei erregte mich, anstatt mich zu beruhigen. Wahrscheinlich hätte ich Angst bekommen, wäre Petrus nicht bei mir gewesen.
»Wer auch immer hier wohnt, wo schläft er?« fragte ich und brach so das Schweigen, das mir zuzusetzen begann. »Dort, wo du jetzt sitzt«, sagte Petrus, indem er auf den nackten Boden wies. Ich wollte mich schon woanders hinsetzen, doch er bat mich, genau da

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