Auf dem Jakobsweg
sitzen zu bleiben, wo ich saß. Die Temperatur schien gefallen zu sein, denn ich begann zu frösteln.
Wir warteten fast eine Stunde lang. Petrus rief ihn noch zweimal und gab es dann auf. Als ich dachte, daß wir nun aufstehen und gehen wollten, sagte er, indem er seine dritte Zigarette ausdrückte:
»Hier sind zwei Manifestationen der Agape vorhanden, Es ist nicht die einzige, doch eine der reinsten. Agape ist die alles umfassende, vollkommene Liebe, die Liebe, die den verschlingt, der sie erfährt. Wer Agape kennt und erlebt, sieht, daß auf der Welt zu lieben das einzig Wichtige ist. Dies war die Liebe, die Jesus für die Menschheit empfand, und sie war so groß, daß sie die Sterne erschütterte und den Lauf der Geschichte des Menschen veränderte. Sein einsames Leben war imstande, etwas zu tun, das Königen, Heeren und Kaiserreichen nicht gelang.
In den Jahrtausenden der Geschichte unserer Zivilisation wurden viele Menschen von dieser alles verschlingenden Liebe erfaßt. Sie hatten so viel zu geben - und die Welt forderte so wenig -, daß sie gezwungen waren, Wüsten und einsame Orte aufzusuchen, weil die Liebe so groß war, daß sie sie veränderte. Aus ihnen wurden die heiligen Eremiten, die wir heute kennen.
Für mich und für dich, die wir eine andere Form der Agape erfahren, mag dieses Leben hart und erschreckend erscheinen. Dennoch bewirkt die verschlingende Liebe, daß alles, absolut alles seine Wichtigkeit verliert. Diese Menschen leben nur dafür, von ihrer Liebe verzehrt zu werden.«
Petrus erzählte mir, daß hier ein Mann namens Alfonso lebe. Er hatte ihn auf seiner ersten Wallfahrt nach Compostela kennengelernt, als er gerade Obst für sich pflückte. Sein damaliger Führer, ein Mann, der sehr viel erleuchteter war als er, war ein Freund von Alfonso, und alle drei hatten das Ritual der Agape oder das Ritual der blauen Kugel durchgeführt. Petrus sagte, daß dies für ihn eine der wichtigsten Erfahrungen in seinem Leben gewesen sei. Noch heute erinnere er sich, jedesmal wenn er die Übung mache, an die Einsiedelei und an Alfonso. Petrus' Stimme klang belegt, es war das erste Mal, daß ich bei ihm so etwas wie Rührung bemerkte.
»Agape ist die Liebe, die verschlingt«, wiederholte er, als konnte dieser Satz diese merkwürdige Art Liebe am besten erklären. »Martin Luther King sagte einmal, daß Christus, als er uns aufforderte, unsere Feinde zu lieben, mit diesem Lieben Agape meinte. Denn seiner Meinung nach sei es >unmöglich, unsere Feinde zu lieben, diejenigen, die uns Schaden zufügen und unseren mühevollen Alltag herabwürdigen< Doch Agape ist mehr als nur jemanden lieben. Es ist ein Gefühl, das alles einnimmt, all unsere Lücken füllt und jegliche Aggressionsgebärde im Keim erstickt.
Du hast gelernt, wiedergeboren zu werden, nicht grausam zu dir selber zu sein, mit deinem Boten zu sprechen. Doch alles, was du von nun an tun wirst, alles Positive, was du von diesem Jakobsweg für dich mitnimmst, wird nur Sinn machen, wenn du von der alles verschlingenden Liebe berührt wirst.«
Ich erinnerte Petrus daran, daß er gesagt hatte, es gebe zwei Formen der Agape. Und daß er möglicherweise nicht die erste dieser Formen erlebt habe, da er ja kein Eremit geworden sei. »Du hast recht. Du, ich und mit uns die Mehrzahl der Pilger, die den Jakobsweg mit Hilfe der Worte der R.A.M. gegangen sind, haben Agape in ihrer anderen Form erfahren: im Enthusiasmus, in der Begeisterung.
In der Antike bedeutete Enthusiasmus Trance, Verzückung, Verbindung mit Gott. Der Enthusiasmus ist die auf eine Idee, eine Sache gerichtete Agape. Wir haben das alle schon einmal erlebt. Wenn wir lieben und mit ganzer Seele an etwas glauben, fühlen wir uns stärker als die Welt und sind von einer Gelassenheit erfüllt, die aus der Gewißheit herrührt, daß nichts unseren Glauben besiegen kann. Diese seltsame Kraft macht, daß wir immer zum ric htigen Zeitpunkt die richtigen Entscheidungen treffen, und wenn wir unser Ziel erreicht haben, sind wir über unsere eigenen Fähigkeiten erstaunt. Denn während des guten Kampfes ist alles andere unwichtig, wir werden vom Enthusiasmus zu unserem Ziel getragen. Der Enthusiasmus ist am stärksten beim Kind. Als Kind sind wir noch eng mit der Gottheit verbunden und so begeistert beim Spielen, daß für uns die Puppen lebendig sind und unsere Zinnsoldaten marschieren können. Als Jesus sagte, daß den Kindern das Himmelreich gehöre, bezog er sich auf Agape in der Form des Enthusiasmus. Die
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