Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Bundesstaatsgrenzen markierten. Kein Wunder, dass die Linien auf den Karten immer so gewunden waren. Als sie die Brücke erreichten, zappelte sie vor Vorfreude herum. Doch dann manövrierte sich ein Sattelzug neben sie. Sie spürte die Vibration des großen Lastwagens, bevor er sich wie eine Wand zwischen sie und die Aussicht schob. »Verdammt«, sagte sie und tat, als würde sie ihn mit der Hand wegschieben. »Ich wünschte, er würde verschwinden.« Schließlich gab sie sich damit zufrieden, auf Marnies Seite hinauszuschauen. Der Missouri war nicht so breit wie der Mississippi, aber dennoch eindrucksvoll. »Heute bin ich zum ersten Mal in meinem ganzen Leben nach Nebraska hineingefahren«, verkündete sie.
Marnie blickte nicht von ihrem ›People‹-Magazin auf. Man könnte meinen, sie würde mit dem Bus durch ihren Stadtteilfahren, so wenig interessierte sie sich für das, was am Wagen vorbeizog. Laverne hatte lange darauf gewartet, Amerika zu sehen, und wollte jetzt nichts davon versäumen. Während Jazzy mit ihrem iPod herumspielte und Marnie las, schaute Laverne weiter aus dem Fenster. Minuten verstrichen und wurden zu Stunden. Nebraska schien überhaupt nicht mehr aufzuhören und die Aussicht änderte sich nicht wesentlich, aber das war ihr egal. Sogar die Schilder an der Interstate und die vorbeifahrenden Wagen interessierten sie. Nachdem sie ihr ganzes Leben lang nur die Nummernschilder von Wisconsin gesehen hatte, fand sie die neuen Kennzeichen faszinierend. Auch noch andere Dinge fielen ihr auf: dass die blauen Schilder Rastplätze kennzeichneten, die braunen auf Sehenswürdigkeiten hinwiesen und die grünen Städte aufführten. Als sie das anmerkte, schien jeder im Wagen das bereits zu wissen.
So vieles war ihr neu. Und da hatte sie doch gedacht, einiges über die Welt zu wissen, nachdem sie drei Kinder großgezogen hatte, zweiundvierzig Jahre verheiratet gewesen war und viele Jahre in der Lohnbuchhaltung von Duffy’s Food Service gearbeitet hatte. Aber tatsächlich waren all diese Jahre und all diese Erfahrungen nur die Spitze des Eisbergs verglichen mit all dem, was hinter der Grenze des Bundesstaats lag. Warum war sie bisher noch nie auf einen Road Trip gegangen? Wahrscheinlich weil sie wie alle, die sie kannten, mit den Kindern im Norden Urlaub gemacht hatten. Es war entspannend, auf dem Wasser zu sein, und die Kinder angelten und schwammen gerne. Nein, sie bereute es nicht. Was sie dagegen bereute, waren die letzten drei Jahre, die sie sich zu Hause eingeigelt hatte. Nach dem Tod ihres Mannes hatte sie den Halt verloren. Es war passiert, ohne dass sie sich dessen überhaupt bewusst gewordenwar. Der erste Winter nach seinem Tod war kalt und schneereich gewesen und sie hatte oft den Kirchgang ausfallen lassen und aufgehört, mit Freundinnen Essen zu gehen. Sie hatte darauf bestanden, dass Familienfeiern bei ihr zu Hause stattfanden. Das hatte keinen gestört. Alle ihre Kinder arbeiteten und es war schön für sie, wenn Laverne kochte und sich um alles kümmerte. Nach einer Weile lief ihr Führerschein ab und der Wagen machte Schwierigkeiten. Sie ließ ihn einfach ungenutzt in der Garage stehen. Schließlich ging sie überhaupt nicht mehr aus dem Haus, abgesehen vom Einkaufen im Supermarkt um die Ecke, gleich morgens früh, wenn er öffnete. Sie war immer müde. Menschen erschöpften sie.
Laverne blickte zu den fedrigen weißen Wolken in der Ferne auf. Sie stellte sich vor, sie wäre dort oben, blickte nach unten und sähe ihr Gesicht aus dem Fenster schauen. Jüngere Menschen betrachteten sie als alt oder sogar uralt. Das erkannte sie daran, wie sie sie Ma’am nannten und ihr im Supermarkt beim Einpacken der Lebensmittel halfen. Sie konnte nicht abstreiten, dass sie mit ihren weißen Locken und dem verwitterten Gesicht alt aussah; da war es schon merkwürdig, dass sie sich genauso fühlte wie immer. Ihre Gelenke waren nach dem Aufwachen
tatsächlich
ein bisschen steif, aber nach einer warmen Dusche und ein paar Dehnübungen war sie startklar. Der große Schock war dann immer der Blick in den Spiegel. Als sie noch jünger war, hatte man sie vor Falten und Arthritis gewarnt, aber keiner hatte ihr gesagt, dass sie eines Tages einen Hühnerhals und Altersflecken haben würde. Oder dass ihre Haut jede Elastizität verlieren würde. Und zwar überall. Selbst Stellen, die eigentlich gar nicht herunterhängen
konnten
, taten es trotzdem. Auch ihre Ellbogen sahen erschlafft aus. Ellbogen!Das war ein
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