Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
man es nie wissen. Ihre Großmutter hatte ihr erklärt, dass Geister auch dann in der Umgebung verborgen waren, wenn man sie nicht spüren konnte.
Zehn Minuten später trank Rita gerade ihren Kaffee aus, als Jazzy durch die Schwingtür hereinkam. Sie schwenkte einen Schlüsselbund mit dem Autoschlüssel. »Schau mal! Ich darf den Wagen nehmen. Wir können losfahren.«
»Wohin denn?«, fragte Rita erstaunt.
»Beth und Mike haben uns erlaubt, den Wagen für den Rest des Tages zu leihen, weil sie ohnehin im Restaurant bleiben«, sagte Jazzy. »Sie rufen uns an, wenn wir sie nach Hause fahren sollen.«
»Ehrlich?«, fragte Rita. Die beiden waren die vertrauensvollsten Menschen, denen sie je begegnet war. Sie hatten vier Fremde aufgelesen, die auf dem Highway liegengeblieben waren, erlaubten ihnen, ihr Auto zu fahren, und öffneten ihnen ihr Zuhause. Erstaunlich.
»Ja.« Jazzy ging hinter die Kühltheke und holte ihre Handtasche.
Auf dem Weg zum Parkplatz sagte Rita: »Ich hatte gehofft, wir könnten über meine Begegnung mit Davis reden. Und was das alles bedeutet. Es hat mich ziemlich erschüttert.«
»Wir können reden, wenn du willst«, antwortete Jazzy und entriegelte die Autotür mit einem Piepsen. »Aber ich neige zudem Gedanken, dass Taten deutlicher sprechen als Worte. Und es gibt etwas, was wir tun müssen.«
35
Nachdem sie sich von der Auffahrt auf die Schnellstraße eingefädelt hatten, drückte Marnie aufs Gas. Der Verkehr floss durchaus schnell dahin, aber sie hatte das Bedürfnis, immer ganz vorne zu sein. Wenn sie sich einer Gruppe von Fahrzeugen näherte, steuerte sie eilig darum herum und hatte die Spur dann wieder für sich.
»Ruhig, Brauner«, sagte Laverne und schirmte ihre Augen gegen die Sonne ab. »Ich weiß, dass du es eilig hast, aber besser zu spät als tot.« Sie suchte ihre Tasche im Fußraum, griff hinein und brachte eine Rund-um-Sonnenbrille zum Vorschein. »Ich hasse diese verdammten Dinger, aber je älter ich werde, desto mehr machen mir meine Augen zu schaffen. Du wirst schon sehen, so geht es jedem irgendwann.«
»Die reinste Vorfreude«, merkte Marnie trocken an. »Ich kann es kaum abwarten.«
»Quatsch, du bist doch erst Mitte dreißig«, gab Laverne zurück. »Du brauchst dir noch keine Sorgen zu machen. Du wirst noch eine Weile keine Probleme haben.«
Sie fuhren ein paar Minuten schweigend weiter, vorbei an Landschaften, die flacher waren, als Marnie erwartet hatte, zumindest für Colorado. Sie hatte irgendwie gedacht, sie würdesich unmittelbar hinter der Grenze zwischen Gebirgsketten wiederfinden. War Colorado nicht dafür berühmt? Fürs Skifahren und Bergsteigen? Für klare Bäche und Panoramen, die zum Sterben schön waren? Noch war nichts davon zu sehen.
»Stört es dich nicht?«, fragte Laverne.
»Wie bitte?«
»Das Sonnenlicht. Tut es dir nicht weh in den Augen?«
»Nur ein bisschen.« Marnie rutschte herum und rückte die Sonnenblende zurecht.
»Mich macht es mürbe, das kann ich dir sagen.«
»Hmmm.«
»Manchmal bekomme ich davon auch Kopfschmerzen.«
»Wenn es dir nichts ausmacht, Laverne, ich habe keine Lust zum Plaudern«, sagte Marnie.
»Oh, Entschuldigung.«
»Ich würde heute gerne so weit wie möglich fahren und ich kann mich leichter konzentrieren, wenn wir uns nicht unterhalten.«
»Soll mir recht sein.«
Marnie warf einen Blick hinüber und sah, dass Laverne jetzt angespannt war und den Mund zu einem grimmigen Strich zusammengepresst hatte. »Es ist nicht, als würde ich nicht mit dir reden wollen«, erklärte Marnie. »Ich möchte mich einfach darauf konzentrieren, nach Las Vegas zu kommen.«
»Und wenn man sich unterhält, fährt der Wagen langsamer?« Wie sie es sagte, klang Marnies Argument plötzlich lächerlich.
»Na ja, nein.« Marnie näherte sich einem Sattelzug und bog dann wild auf die Überholspur ab. Ein forscher Fahrstil. So hätten sie es von Anfang an halten sollen. Sie hätten viel mehrStrecke zurücklegen können, wäre Rita nicht am ersten Tag so langsam und vorsichtig gefahren. »Ich kann nur nicht gut mehrere Sachen gleichzeitig machen.«
»Ich glaube nicht, dass das alles ist«, erklärte Laverne. »Ich glaube, du magst mich einfach nicht.«
»Sei nicht albern. Das stimmt nicht.«
»Oh doch. Das merke ich genau. Du setzt dich immer neben Jazzy oder Rita, wenn du die Wahl hast. Und du verhältst dich so, als würde ich dich nerven, was absoluter Quatsch ist, weil ich die ganze Zeit immer nur nett zu dir war.« Das
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