Auf dem langen Heimweg: Roman (German Edition)
Miss.«
»Nicht mit Ihnen, mit einer Frau. Sie hat braunes Haar, ist älter als Sie und sehr nett. Sie hat ein freundliches Gesicht.« Sie blickte durch den Raum zum Korridor. »Ist sie hier?«
Er klopfte mit dem Bleistift auf die Schreibtischplatte. »Officer Wihr ist gerade nicht da und ich weiß nicht, wann sie zurückkommt. Aber ich kann Ihnen auch helfen.«
Eine Stimme meldete sich in Jazzys Kopf.
Nein!
»Wir warten, bis sie wiederkommt«, erklärte Jazzy.
»Schauen Sie mal«, meinte er ungeduldig. »Sie kann nichts tun, was ich nicht auch tun könnte.«
»Das bezweifle ich sehr«, entgegnete Rita, die sich über seinen herablassenden Tonfall ärgerte. »Wir warten.«
»Es könnte eine Stunde oder länger dauern«, entgegnete er gereizt. »Hören Sie, ich bin mehr als qualifiziert, mich mit jedem Problem zu befassen, das Sie haben.« Er wedelte eine Fliege weg, die seinen Kopf umschwirrte, und starrte sie dann an, seine dicht beieinander stehenden Augen verengten sich missbilligend.
»Wo können wir warten?«, fragte Rita. Als er auf ein paar Stühle am Rand deutete, ging sie hin, um sich zu setzen.
Jazzy hielt dagegen die Stellung. »Wäre es vielleicht möglich, Officer Wihr anzurufen und ihr zu sagen, dass wir mit ihr reden wollen?« Sie lächelte nett und stemmte eine Hand in die Hüfte. »Ich wäre Ihnen wirklich sehr verbunden.«
»Na ja«, ließ er sich erweichen. »Ich habe heute ziemlich viel zu tun, aber weil ich ein richtig netter Kerl bin, tue ich Ihnen den Gefallen.«
»Ich wäre Ihnen sehr dankbar, Mister ...?«
»Mahoney.« Er langte über den Tisch und schüttelte ihr verlegen die Hand. »Bruce Mahoney.«
»Danke, Bruce. Das wäre großartig.« Jazzy warf ihm ein strahlendes Lächeln zu und schlenderte zu Rita hinüber.
»Mannomann«, sagte Rita. »Du bist wirklich unglaublich, Missy.«
»Meine Großmutter hat immer gesagt, Fliegen fängt man besser mit Honig als mit Essig.« Sie wedelte mit denFingerspitzen in Mahoneys Richtung und er lächelte zurück.
»Meine hat immer gesagt, dass die Dummen nicht alle werden.«
»Kann sein, aber sieh mal, jetzt ruft er an.«
Das tat er tatsächlich. Jazzy rutschte auf dem Kunstledersitz des Stuhls herum und schob sich ein Bein unter. Mahoney senkte die Stimme, aber in dem stillen Raum hörten sie, dass er sie als Mutter und Tochter beschrieb. Er wandte sich ab, als er sah, dass sie ihn beobachteten, aber Rita fing die Worte ›eine süße Blondine‹ auf. Sie war sich sicher, dass ihre eigene Beschreibung bei weitem nicht so schmeichelhaft ausfallen würde, aber das war ihr vollkommen gleichgültig. Plötzlich kam ihr ein Gedanke und sie stupste Jazzy an. »Wir werden also mit einer Frau Wihr sprechen.«
»Genau.«
»Ihr Nachname ist Wihr.« Rita streckte die Beine aus und legte die Hände auf die Knie.
»Ich weiß, ich habe ihn ja gehört.«
»Nein, ich meine, sie ist nicht
wirr
. Sie heißt so: Wihr.«
»Ahaa«, sagte Jazzy. »Du hast recht. Das habe ich wohl missverstanden.« Dann fügte sie beinahe entschuldigend hinzu: »Es ist keine exakte Wissenschaft, verstehst du.«
Auf der anderen Seite des Raums beendete Mahoney sein Telefongespräch und rief ihnen zu: »Sie ist auf dem Weg. Sie ist im Nullkommanichts da.« Rita fand es merkwürdig, dass er den Ausdruck ›im Nullkommanichts‹ verwendete. Es klang eher wie etwas, das ein älterer Mensch sagen würde.
»Vielen herzlichen Dank«, erwiderte Jazzy.
Rita hätte schwören können, dass sie irgendwo unterwegs einen südlichen Akzent aufgegabelt hatte. »Du bist mir eine«, sagte sie und drückte den Arm des Mädchens.
›Im Nullkommanichts‹ erwies sich dann schließlich als eine Viertelstunde. Als Officer Wihr endlich eintraf, warteten Rita und Jazzy schon ungeduldig.
Officer Wihr erwies sich als das Gegenteil ihres jüngeren Kollegen. Sie war weniger reizbar und herzlicher. Genau wie Jazzy sie beschrieben hatte, war sie in den Vierzigern und hatte schulterlanges, von grauen Strähnen durchzogenes Haar. Sie hätte ein paar Kilo abnehmen können, sah aber kernig und nicht schwabbelig aus. Officer Wihr hatte etwas Vertrauenerweckendes an sich. Rita war der Gedanke, die Geschichte von Melindas Tod ein weiteres Mal erzählen zu müssen, einen Moment lang schrecklich gewesen, aber diese Frau hatte ein herzliches Lächeln, und das machte es einfacher. Sie führte die beiden zu ihrem Schreibtisch, auf dem sich Akten und Unterlagen, gerahmte Familienfotos und eine Topfpflanze
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