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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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nach Neuseeland kam und ich seine feuchte Haut und sein blasses Gesicht sah und ihn schniefen hörte, machte ich mir Gedanken über ihn, halb Kind, halb Fisch, in diesem einsamen Meer. Lonnie war zehn, das mittlere von drei Kindern – ein viertes war unterwegs –, und Brians Schwester hatte auf dessen Rat hin und mit seiner Hilfe die Reise nach Amerika als besondere Vergünstigung arrangiert, um dem «übersehenen» Kind Aufmerksamkeit zu schenken. Alle hatten angestrengt nachgedacht und den Plan psychologisch richtig gefunden. Lonnie hatte zu Hause und in der Schule wegen kleinerer Diebstähle und mutwilliger Sachbeschädigung Schwierigkeiten gehabt; angeblich war erschwer zu behandeln, mürrisch, aufsässig. Alle sagten, stellt euch nur vor, wie stolz er sein wird, wenn er voller Eindrücke von seiner großen Amerikareise nach Hause kommt! «Er wird lange davon zehren können», sagte Brian, «bis er mit der Schule fertig ist. Und noch länger. Und wie ließe sich ein so vertracktes Problem auf weniger schmerzliche – und so
angenehme
– Art lösen?»
    Ja, wie? Überseeflug, Äquatorüberquerung, Wolkenkratzer, das Land, in dem Hollywood liegt, das Land der Wildwestfilme und der Lieder mit den Namen, Namen, Namen, mit denen es Palmerston North, Marton, Foxton niemals aufnehmen konnten, wenn nicht ein Funke der Phantasie, der irgendwo entzündet wurde (von Peter Wallstead, von Margaret Rose Hurndell?) den Ort wie ein Buschfeuer in Brand setzte. Die Maorinamen – Wanganui, Waikato, Tuatapere, Taranaki – waren mächtiger, da sie durch den ersten einenden Akt der Dichtung an den Ort angeschweißt waren und nicht daraufgeklebt wie ein Preisschild im Supermarkt; dennoch, der wahre Triumph wäre es, den Brand an den ganz normalen Orten zu entfachen.
    Und da die Menschen gezwungen sind, nicht nur ihr eigenes Leben zu durchleben, sondern auch das ihrer Kinder, der Kinder anderer, ihrer Freunde, ihrer Verwandten, empfand Brian Lonnies Freude über seinen Amerikabesuch schon im Voraus, sein unentwegtes Staunen, vielleicht auch seine Dankbarkeit und Liebe, das Ganze eingebettet in eine Wärme der Erfahrung, die sein mürrisches Wesen und seine Aufsässigkeit zum Schmelzen bringen würde.
    «Er kann oben im Vorderzimmer schlafen», sagte Brian. Das war das Zimmer mit der Felldecke auf dem Bett und der Pop-Art-Frau in Rosa, die neben dem Fenster stand.
    «Sie wirft einen Schatten», sagte Brian, «und dann glaubt man, es ist jemand zu Hause.»
    «Aber was wird Lonnie den ganzen Tag machen?», fragte ich. Ich wusste, dass Brian sich nicht freinehmen konnte.
    «Kein Problem. Die Kinder aus der Nachbarschaft werden ihm gern alles zeigen. Ich habe schon mit Mose und James gesprochen.» Mose und James kamen in die Klinik, um lesen zu lernen, nicht weil sie Dyslexiepatienten waren, sondern weil sie es in der Schule versäumt hatten, und Brian schenkte ihnen seine Zeit, ganz unbefangen, wie man das tut, wenn man weit weg ist von zu Hause, ohne die Kritik und die Nähe aller anderen Angehörigen der eigenen Volksfamilie. Sie wohnten in der Nähe und kletterten oft über die Mauer in den winzigen Garten hinter dem Haus, in dem wir aßen, nun, da der warme südliche Frühling gekommen war. Sie waren oft hungrig, weil sie bei ihrer Rückkehr von den unvermeidlichen Streifzügen zwölfjähriger Jungen entdecken mussten, dass ihre Geschwister alles aufgegessen hatten. James, dessen Vater im Gefängnis war, arbeitete nach der Schule als Schuhputzer vor der Schlosserei, während Mose, dessen Vater selten länger als einen Monat im Gefängnis war, wenn man ihn beim illegalen Zahlenlotto erwischt hatte, nach der Schule im Radiogeschäft auskehrte und aufräumte. Mose, der intelligenter war als James, hatte mit zwei anderen, älteren Jungen eine «Würgevereinbarung» (der eine fragte einen Passanten nach der Uhrzeit oder nach etwas anderem, während die beiden anderen sich im Hintergrund hielten, und wenn sie den Augenblick für günstig befanden, kamen sie und würgten das Opfer von hinten (mit einem Seil oder mit den Armen), während der dritte sich die Handtasche oder Brieftasche schnappte). Mose trug auch eine Pistole bei sich, eine SaturdayNight Special, und beide kannten das Gesetz der Straße, und von Zeit zu Zeit, wenn sein Vater nicht im Gefängnis war, lebte James mehr auf der Straße als zu Hause. Es waren aufgeweckte Jungen mit einem ausgeprägten Sinn für Dramatik und einem Hang, beim Sprechen Theater zu spielen, ständig

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