Auf dem Maniototo - Roman
insbesondere wo sie doch sorgfältig ausgesucht worden waren und als Sahne der Flüchtlingsmilch galten, und jeder wusste doch, wie wichtig Sahne war; sie war fast heilig. Wie konnte man nur an seinem Gastland Kritik üben! Denn Neuseeland war unser Gastland, unser gütiger, wählerischer Gastgeber, und wir waren moralisch verpflichtet, respektvolle, dankbare Gäste zu sein.
Gäste kehren irgendwann einmal nach Hause zurück; wir blieben und verwandelten uns fast unmerklich in Gastgeber. Mutter wurde mager, alt und grau, mit einem hungrigen Gesichtsausdruck, den sie all die hungrigen Jahre hindurch nicht gehabt hatte, während Josef und ich aufblühten, fast als hätte Mutter uns einen Teil von sich als Nahrung angeboten, die wir wie eine selbstverständliche Notwendigkeit annahmen und verzehrten.
Nach seinem Schulabschluss fand Josef Arbeit auf einer Farm, und als er heiratete, konnte er sich seine eigene kleine Farm kaufen. Ich ging nach der Oberschule auf die Pädagogische Hochschule, und von da an hat Theo dir meine Geschichte erzählt. Ich erinnere mich, dass Theo und ich, als wir Dunedin verließen, eine einzige echte Freundin hatten, eine Lateindozentin, die wir anfangs gar nicht gut gekannt, ja geradezu gemieden hatten, da sie den Eindruck einer Gesellschaftshyäne machte, und doch war sie es, Gladys, die uns einlud, die letzten paar Tage in Dunedin in ihrem Haus in Roslyn zu verbringen, von wo man einen Ausblick über Hafen und Halbinsel hat. Am letzten Tag fuhren wir zur Spitze der Halbinsel hinaus, um die Kolonie der Königsalbatrosse zu sehen. Dieser Ausflug ist eine Geschichte für sich. Oder ein Buch. Eines Tages werde ich ein Buch schreiben.
Und nun, Alice Thumb, wohnen wir hier im Zentrum von Berkeley und sind auf der Suche nach einer neuen Wohnung. Wir haben keine Kinder, weil wir nur einander wollen und brauchen, und Theo sagt, natürlich zum Spaß, dass ich sein Kind bin. Er kauft mir gern Kleider und Juwelen, um mich damit zu schmücken, so wie das ausgewählte Kind im Spiel mit einem ‹Kleinod› geschmückt wird, in einer Welt der Phantasie, in der nichts wirklich verloren geht oder verletzt oder getötet wird. Er lässt mich und andere gern wissen, dass er mich gerettet hat: Er ist ein großer Retter. Einmal rettete er einen Studenten, Al Tithel, vor dem Ertrinken, und als Al voriges Jahr den Lehrstuhl für Bildende Kunst an der Hochschule bekam, gratulierte ihm Theo in einem langen Brief, in dem er ihm berichtete, mit welchem Interesse er seine Karriere verfolgt habe seit jenem Tag vor vielen Jahren, als Al in Brighton von der Brandung erfasst worden war und ertrunken wäre, wenn Theo ihn nicht gerettet hätte. Theo besitzt einen Anteil an allen, die er gerettet hat, denn in gewissem Sinne darf er behaupten, sie wiedererweckt und wiedererschaffen zu haben, und weil sie ihm ihr Leben schulden, ist er die indirekte Ursache für alles Glück, das ihnen zuteilwird. Selbstverständlich übernimmt er keine Verantwortung für Unglück – der Schuldschein der ursprünglichen Rettung bezieht sich nur auf das Gute. Ich meine dies nicht zynisch. Theo ist ein guter Mensch, aber einen Anteil an einem Menschen zu besitzen bedeutet auch, dass der Gerettete vom Lebensblut des Retters getrunken hat und dass der, der einem das Leben gegeben hat, auch das Recht haben kann, einem den Tod zu geben, indem er dem Menschen einen Pfahl ins Herz treibt.
Ja, Theo ist ein guter Mensch. Er hat sich Feinde geschaffen – Retter neigen dazu, sich Feinde zu schaffen, oft diejenigen,die sie gerettet haben. Er hat viele Freunde. Und wenn wir eine eigene Wohnung gefunden haben, keine Mietwohnung wie in den letzten fünf Jahren, werden wir, Retter und Gerettete gemeinsam, ein vollkommen glückliches Leben führen. Er wird sein Buch über Erosion schreiben, und vielleicht schreibe auch ich mein Buch, aber vor allem werde ich ihn im Alter umsorgen, auch wenn er immer mein Retter bleiben wird. Wir brauchen niemanden, nur uns.»
25
Gäbe es nicht die Gepflogenheit, die als Die Große Kalifornische Beichte (die G.K.B.) bekannt ist, dann hätte ich wohl nicht so viel über meine Gäste zusammentragen können. Damals hatte die G.K.B. – als Erfordernis des Zeitalters der Erklärungen – ihre Glanzzeit, insbesondere in Kalifornien, und selbst Brian, der für gewöhnlich wortkarg war, hatte sich in Versuchszentren aufgehalten, wo Klienten einander ihr Herz ausschütteten, wie Säcke mit Kohle (die brennt) oder Weizen (der
Weitere Kostenlose Bücher