Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
Vom Netzwerk:
winzigen, frisch gepflanzten Bäume, die den verwüsteten Erdboden mit ihren schwachen Wurzeln kaum zusammenhalten konnten (in ihrem Kochbuch würde stehen, es fehle ihm das Bindemittel), während die riesigen Großvater- und Großmutterbäume über das Land verstreut oder in Sägewerken gestapelt lagen, um auszuwittern, ein beleidigend abschwächender Ausdruck angesichtsihres natürlichen Auswitterns über Jahrhunderte; oder sie befanden sich als Balken, Stirnbretter, Schalbretter in Tausenden von Häusern, knackten und seufzten und ächzten jede Nacht, wenn die Nerven an den einstigen Amputationsnarben zuckten; in der Nacht, wenn der Igel den Weg entlangschnüffelte und der Kuckuckskauz rief.
    Der Gedanke, dass Theo über solche Dinge Bescheid wusste, stimmte sie freundlicher. Sie berührte ihn sanft an der Schulter. Sie fand, dass er älter aussah als fünfundsechzig, wohingegen er tagsüber, im Wachzustand, stets den Eindruck schwungvoller Jugend vermittelte.
    Langsam öffnete er die Augen. Er sah benommen aus.
    «Ich habe furchtbare Kopfschmerzen», sagte er. «Die Hitze.»
    Er zog die Stirn in Falten.
    «Mir scheint, ich kann nicht klar sehen.»
    Er sprach undeutlich.
    «Ich … die Wörter sind weg … mir fallen die Wörter nicht ein … was ist passiert? Mein rechter Arm fühlt sich komisch an … schwer … O Gott!» Doris empfand Ekel und Angst. Einen Augenblick lang sah Theo, der starke, Rettung bringende Theo, wie eine alte Vogelscheuche aus, bestand nur aus Kleidern, nachgebildetem Gesicht und Körper und leeren Ärmeln. Die Abgenutztheit, die ihn so aussehen ließ, schrieb ihm seinen Beruf ins Un-Gesicht, so deutlich, wie jedes Metier die Haut mit seinem Erkennungszeichen versieht – der gelassene Arzt mit seiner zentralgeheizten Zimmerhaut, der glatte Vertreter mit dem Lederkofferaussehen, dessen Blick andauernd überzeugt und garantiert.
    «Was ist denn, Theo?», fragte Doris.
    «Ich glaube … ein leichter … Schlaganfall.»
    «Soll ich einen Arzt rufen?»
    «Das ist wirklich nicht … ja, vielleicht – klingt meine Stimme merk… komisch … ich glaube, die Wörter sind fort.»
    Doris überredete ihn, auf der Couch liegen zu bleiben, während sie nach einem Arzt telefonierte.
    Dr. Quarles vom Sun Valley Center (Seniorengerecht, Privatsphäre, Organisierte Freizeit, Ärztliche Betreuung, Einkaufszentrum) war ein kleiner Mann mittleren Alters. Als er Doris’ Tonfall hörte, rief er aus: «Sie sind Engländerin! Sie kennen doch sicher den Dichter Francis Quarles?»
    «Nein», sagte Doris. «Vielleicht habe ich schon von ihm gehört, aber ich befasse mich nicht mit Dichtung. Der Name kommt mir aber bekannt vor, aus meiner Schulzeit.»
    «Sie kennen Francis Quarles nicht, den Chronisten der Stadt London, der vor mehreren Jahrhunderten lebte? ‹Offenbare deine Sonnenstrahlen, schließ deine Flügel und bleib› – das kennen Sie nicht? Es ist aus ‹Warum versteckst du dich› …?»
    «Ich fürchte, nein», sagte Doris schroff. «Hier ist Ihr Patient.»
    «Er ist ein Vorfahre von uns», erklärte Dr. Quarles. «Wir haben unseren Stammbaum erstellen lassen.»
    «Aber das ist mein Fachgebiet», sagte er, als er Theo sah, «ja, mein Fachgebiet», wie um territorialen Anspruch auf ein Gebiet zu erheben, in dem keine Wörter blühen, sondern Schlaganfälle und Herzattacken und in dem es noch zusätzliche Bodenschätze (Medikamente, Rollstühle usw.) auszubeuten gibt.
    «Ich bin Spezialist für Geriatrie. Ich bin diese Durchblutungsstörungen gewohnt.»
    «Durchblutungsstörungen?», sagte Doris erstaunt.
    «Ja. Können Sie ihn nach Hause bringen, damit er Ruhe hat?»
    «Wir fahren in ein paar Minuten nach Hause», sagte Doris.
    «Ihr Mann wird sich schonen müssen. Und seinen Hausarzt aufsuchen. Ein väskulares Ereignis wie dieses muss unter ärztlicher Beobachtung bleiben.»
    «Ein Ereignis?»
    «Keine Anstrengung, keine Aufregung. Eine Kontrolluntersuchung durch den Hausarzt.»
    Dass Theo schwieg, war ungewöhnlich; er hatte einen Großteil seiner Sprechfähigkeit an seine Augen und seine linke Hand abgegeben. Doris stellte fest, dass sie jetzt die Stimme erhob, wenn sie mit ihm sprach, so als wäre er schwerhörig. Sie merkte auch, dass er nicht mehr zu sprechen versuchte, wie wenn seine wenigen Worte ein letztes Aufflackern seines Sprechvermögens gewesen wären, bevor es erlosch.
    «Wird es wiederkommen?», fragte sie ihn.
    Er bewegte den Kopf. Es konnte Ja oder Nein heißen.
    Dr. Quarles

Weitere Kostenlose Bücher