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Auf dem Maniototo - Roman

Auf dem Maniototo - Roman

Titel: Auf dem Maniototo - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: C.H.Beck
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Essen zu. Sie war nicht hungrig, aber sie hatte sich darauf gefreut, jemanden «ganz für sich» zu haben, ohne dass die Wüste in ihr Leben einbrach. Was die Phantasie betraf, so empfand sie deswegen keine Schuldgefühle, da Roger sich «für die Wüste aufgespart» hatte. Trotzdem, sie blieb Roger treu. In ihren Augen war Theo ein lauter, voreingenommener Mensch, aber sie war dankbar, dass er nicht so tat, als teile er Geheimnisse mit ihr, wozu Neuseeländer ihrer Erfahrung nach neigten, wenn man ihnen im Ausland begegnete, wenn Heimatstädte, die so weit voneinander entfernt waren wie Napier und Tuatapere, Dargaville und Romahapa, plötzlich als benachbart angesehen wurden.
    «Kein Picknick», sagte Theo. «Ich habe rasende Kopfschmerzen. Mir ist furchtbar übel.»
    Doris ging ins Schlafzimmer, duschte sich, trank etwas Kaltes und legte sich auf eines der Betten. Sie schlief nicht sofort ein. Sie dachte an ihre Kinder, und der Gedanke beunruhigte sie, dass sie ihr während ihrer Abwesenheit «entwachsen» könnten: Kleine Kinder waren sich fast ebenso unsicher wie Erwachsene über die Bedeutung, die Begegnungen und Trennungen hatten, aber in ihrer Ahnungslosigkeit hattensie mehr Phantasie und mehr Angst. Doris machte sich auch Sorgen um Roger und darüber, wie Menschen sich ändern. Sie hatte Veränderungen immer als schwierig empfunden. Sie erinnerte sich daran, wie ihr Vater sich schlagartig von einem Farmer in einen Handelsreisenden verwandelt hatte. Er war so fest entschlossen, das würdevolle Ich, das er sich als Farmer aufgebaut hatte, zu behalten, dass er es, als er von einem Tag auf den anderen Handelsreisender wurde, unversehens auslöschte; und sie erinnerte sich an das Gefühl des Verrats, als ihre Mutter, früher eine Privatperson, die manchmal Verse über «Hoffnung» und «Zuversicht» und «Die Macht eines Lächelns» geschrieben hatte, eine öffentliche Wirtin geworden war, die von den Kostgängern mit «Mum» angesprochen wurde, wo sie doch gar nicht ihre Mutter war. Wellington war ein schrecklicher Ort, dachte Doris. Sie erinnerte sich so lebhaft wie an ein Märchen aus ihrer Vergangenheit und der Vergangenheit der Welt daran, wie Menschen vom Wellington-Wind davongeweht worden waren und wie von ihnen, als sie einige Straßen und Schlünde weiter weg gefunden worden waren, nichts übrig geblieben war als ein Haufen trockener Haut, aufgeschichtet wie aus toten Blättern, mit Haaren wie Grashalme und Knochen, zermahlen zu weißem Staub, der sich mit dem Wind vereinigte in dessen immerwährendem, wirbelndem Kreislauf. Sie hatte kein Heimweh nach Wellington gehabt, außer hin und wieder nach der schattigen, feuchten Seite mancher Hügelstraßen, wo niemals die Sonne schien, wo Farne die Zäune überwucherten und aus ihren Lücken wuchsen und wo einem eine eigentümliche Kühle den Atem verschlug, von der man sich zwar sofort abwenden konnte, die man aber nie vergaß – so als wäre man gegen ständige Sonnenbestrahlung geimpft worden. Dorishatte Heimweh nach London. Kalifornien war von einer Fremdheit, einer Wärme und Freiheit, die ihrem Gefühl nach in ihrem Leben fehl am Platz war. Es war eine Zone extremer Klimaverhältnisse, wogegen sie und ihre «englische» Haut in maßvoller Sonne, maßvollem Regen und Frost herangereift und aufgeblüht waren. Es versetzte sie in panischen Schrecken, wie die Hitze der kalifornischen Sonne, der heiße Atem der Wüste und die löwenfarbenen Berge, abgeschliffen durch die ständigen Angriffe von trockenem Wind und Feuer, die wichtigen inneren Barrieren niederschmolzen. Sie hatte Angst, auch sie könnte sich verändern und sich nicht wiedererkennen.
    Sie schlief ein. Sie hatten die Empfangsdame gebeten, sie in zwei Stunden anzurufen, und binnen kürzester Zeit weckte sie das Telefon. Sie ging ins Wohnzimmer. Theo schlief immer noch tief und fest. Ältere Männer, dachte Doris und wusste nicht mehr, wo sie diesen Gedanken herhatte, ältere Männer brauchen mehr Schlaf. Sie blickte auf seinen schlaffen Mund und hörte sein schweres Atmen. Alles, so dachte sie in einem Anfall von Panik, ist außer Kontrolle geraten. Der Gedanke war seltsam, dass Theo aus Neuseeland kam, dass er die Wüstengegenden in Central Otago kannte, wo die Kaninchen früher ihre Sommerresidenz hatten. Theo hatte sie studiert. Er wusste Bescheid über sie als Herren der Erosion, ebenso wie über den Verlauf der Küstenlinie, die langsam im Meer versank, über die abbröckelnden Klippen, die

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